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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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… abgesehen davon ist es auch ziemlich kalt in meinem Zimmer, und es wäre nicht recht, finde ich, einem Freund Unannehmlichkeiten zu bereiten (aber vielleicht, wenn es etwas wärmer wird … ).
    Ich gestattete mir aber, Jacquas Gliedmaßen nach meinen Wünschen zu arrangieren, und er nahm diese Zumutung so gut gelaunt hin, dass ich möglicherweise zu lange bei dieser Aufgabe verweilte. Denn kaum hatte ich mich an meine Staffelei begeben, wurden wir durch einen wahren Aufruhr unten auf dem Maidan gestört. Wir rannten auf die Terrasse hinaus und sahen uns einem höchst beunruhigenden Anblick gegenüber. Eine Menschenmenge hatte sich auf dem Platz versammelt, und alle liefen planlos durcheinander. Mitten in dem Gewühl marschierte eine Abteilung Mandschu-Sepoys mit Flaggen, Wimpeln und aus Helmen und Uniformen ragenden Federn in Karreeformation über den Maidan. In ihrer Mitte ging etwa ein Dutzend aneinandergeketteter Gefangener. Wegen der herandrängenden Menge sah man nicht viel von ihnen, nur ihre Köpfe, und von diesen waren nur wenige nach chinesischer Sitte kahl rasiert und bezopft. Die übrigen trugen Turbane oder auf unverkennbare Hindustani-Art gebundene Kopftücher!
    Achhas in Ketten? Die hiesige Polizei rückt Ausländern so selten zu Leibe, dass Jacqua nicht minder verblüfft war als ich: Auch er hatte so etwas noch nie gesehen. Wer konnten diese bedauernswerten Achhas sein? Was hatten sie verbrochen?
    Die Neugier packte uns, und wir liefen auf den Maidan hinunter und stürzten uns in die Menge.
    Nach wenigen Minuten hatte Jacqua in Erfahrung gebracht, was da im Gange war: Die Soldaten hatten eine Razzia in Mr. Innes’ Wohnung in der Creek-Faktorei durchgeführt und ihn auf frischer Tat beim Entladen von Opium aus einem Schiffkutter ertappt. Die Bootsbesatzung war verhaftet worden, darunter auch zwei Einheimische, die als Führer gedient hatten. Die Übrigen waren Laskaren, und auch sie sollten in einem Polizeiposten innerhalb der Stadtmauern eingesperrt werden.
    Die beiden Führer waren übel zugerichtet, und ihre Kleider waren zerfetzt. Die Laskaren hingegen schienen körperlich unversehrt, aber auch sie boten mit ihren bloßen Füßen und den dünnen Hosen und Hemden einen bejammernswerten Anblick; nur die Tücher, die sie um den Kopf, und die Decken, die sie um die Schultern trugen, schützten sie vor der Kälte. Sie mussten sich zu Tode ängstigen, ließen sich aber nichts anmerken, sondern wirkten, ganz nach Art der Achhas, stoisch und schicksalsergeben. Da sie Schmuggler sind, haben sie ihr Schicksal mehr als verdient, aber ich muss gestehen, ich empfand unwillkürlich Mitleid mit ihnen, als ich sie so gesenkten Blickes dahintrotten sah. Was würde ich an ihrer Stelle tun, fragte ich mich, wenn man mich in einer fremden Stadt inmitten eines wütenden Pöbels in ein chinesisches Gefängnis führen würde?
    Mit Jacquas Hilfe kämpfte ich mich durch die Menge, die sich immer enger um die Gardisten und ihre Gefangenen schloss. Der Zug bog nun in die Old China Street ein, und in diesem Engpass wurde ich neben einen der Laskaren gedrängt. Er war von schlanker Statur, wirkte aber kräftig, und obwohl er wie die anderen den Kopf hängen ließ, schien er mir sehr jung. Aus der Nähe sah ich, dass sein schmutziges Kopftuch nichts anderes war als ein zerschlissenes, ausgebleichtes Handtuch, und ich fragte mich, ob er nicht wie so viele Laskaren aus Bengalen kam.
    Das Gejohle der Menge schien in der engen, schattigen Straße weiter anzuschwellen. Die Wachen waren dadurch abgelenkt, und ich konnte mich noch näher an den jungen Laskaren heranschieben. Zwar sah ich ihn nur von der Seite, aber seine Kinnlinie kam mir irgendwie bekannt vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Genau konnte ich ihn in dem Gewühl nicht in Augenschein nehmen, aber ich schwöre Dir, er sah ganz ähnlich aus wie dieser »Bruder« von Dir, Dein geliebter Jodu.
    Aber mach Dir keine Sorgen, liebe Paggli. Ich weiß ja gar nicht, wer der Junge war; außerdem versichert mit Jacqua, dass »abschneid Kopf« nicht das Schicksal dieser Laskaren sein wird (ich hatte ihn zugegebenermaßen gebeten, sich zu erkundigen, weil mich der Gedanke nicht losgelassen hatte … ) – doch Du kannst ganz beruhigt sein: Dazu wird es nicht kommen, man hat sie nur in der Zitadelle eingesperrt.
    Seit diesem Tag ist wieder so etwas wie Normalität in Fanqui-Town eingekehrt, und dennoch ist nichts mehr so, wie es vorher war. Die Creek-Faktorei, in der Mr.

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