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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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einen Fluchtversuch war es zu spät, denn Asha-didi stellte ihn bereits vor: »Babu Nob Kissin, das ist der Herr, von dem ich Ihnen erzählt habe, der andere Bengali Babu in Kanton: Anil Kumar Munshi.«
    Babu Nob Kissins gewölbte Stirn legte sich in Falten, als er von seinem Teller mit daal und puris aufsah. Seine Augen weiteten sich, während sie auf Nil ruhten, und verengten sich dann. Offenbar versuchte er vergeblich, sich Kinn- und Schnurrbart aus Nils Gesicht wegzudenken, und Nil sah ihm seine Verblüffung an. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, und setzte ein neutrales Lächeln auf. »Namashkar«, sagte er und legte die Hände aneinander. Babu Nob Kissin ignorierte den Gruß und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. »Wie ist Ihr Name, bitte?«, fragte er und wechselte ins Englische. »Ich habe nicht verstanden. Klärung wird benötigt.«
    »Anil Kumar Munshi.«
    »Und in welcher Art Beschäftigung Sie engagieren?«
    »Ich bin Seth Bahram Modis Munshi.«
    Die Brauen des Babus hoben sich. »Donnerwetter! Dann wir sind wie Kollegen.«
    »Wieso?«
    »Weil ich bin Burnham-Sahibs Gumashta. Er auch ist Taipan.«
    Nil musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um sich nicht anmerken zu lassen, was für ein Schreck ihm bei diesen Worten in die Glieder fuhr. »Ist Mr. Burnham hier?«, fragte er mit bewusst ausdrucksloser Stimme.
    »Ja. Er ist gekommen mit neuem Schiff.«
    »Mit welchem Schiff?«
    Wieder verengten sich Babu Nob Kissins Augen, als sein Blick forschend über Nils Gesicht glitt. »Schiff heißt Ibis . Vielleicht Sie haben davon gehört?«
    Zum Glück wurde in diesem Moment ein Teller biryani vor Nil hingestellt. Er senkte die Lider und schüttelte den Kopf. » Ibis ? Nein, davon habe ich nichts gehört.«
    Babu Nob Kissin stieß einen Seufzer aus und fuhr auf Bengali fort:
    »Babu Anil Kumar, ich erzähle Ihnen von der Ibis , während Sie essen. Burnham-Sahib hat das Schiff erst letztes Jahr gekauft, und als ich es zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass es eine große Veränderung in meinem Leben bewirken würde. Sie fragen sich jetzt vielleicht, wie ich, ein englisch gebildeter Babu, so etwas auf den ersten Blick erkennen konnte. Ich sage es Ihnen: Der Mensch, den Sie vor sich sehen, ist nicht, was Sie denken. In dem sichtbaren Körper verbirgt sich jemand anders, jemand, der in einem früheren Leben eine Gopi war, ein Mädchen, das mit Kühen spielte und Butter für den Butter stehlenden Gott machte. Ich weiß das seit Langem, genauso wie ich weiß, dass eines Tages der sichtbare Körper abfallen und die innere Gestalt hervortreten wird, wie ein Träumer, der nach langem, tiefem Schlaf unter einem Moskitonetz hervorkommt. Aber wann? Und wie? Diese Fragen trieben mich um, als ich die Ibis zum ersten Mal sah , und ich wusste sofort, dass dieses Schiff zum Werkzeug meiner Verwandlung werden würde. An Bord war ein Mann namens Zachary Reid, seinem Äußeren nach ein einfacher Seemann, aber mir war sofort klar, dass auch er nicht war, was er zu sein schien. Noch ehe ich ihn erblickte, hörte ich ihn Flöte spielen – Flöte! – , das Instrument des göttlichen Musikanten von Vrindavan. Ich wusste ohne jeden Zweifel, dass seine Ankunft ein Zeichen war, ich wusste, dass ich auf dieses Schiff musste, und das Glück wollte es, dass ich zum Supercargo des Schiffes ernannt wurde.
    An Bord waren über hundert Kulis und zwei Gefangene. Einer von ihnen war Bengale – ein Mann in Ihrem Alter, würde ich sagen, Anil-babu. Er war einmal ein Raja gewesen, hatte aber sein ganzes Geld verloren und eine Fälschung begangen. Er wurde aus seinem Palast geholt, weg von Frau und Sohn und seinen Dienern, und ins Gefängnis gesteckt, es kam zum Prozess, und er wurde zu sieben Jahren Zwangsarbeit in einem Straflager auf Mauritius verurteilt. Ich hatte diesen Mann, diesen Raja, öfter in Kalkutta auf der Straße gesehen, bevor ihn das Glück verließ. Er war wie andere Zamindare auch, überheblich und faul, korrupt und ausschweifend. Aber Schiffe und Meer können einen Menschen verändern, würden Sie nicht auch sagen, Anil-babu?«
    Nil sah von seinem biryani auf. »Schon möglich … «
    »Ich weiß nicht, wen die Ibis mehr verändert hat, ihn oder mich, aber als ich diesen einstigen Raja dort auf dem Schiff in Ketten sah, fühlte ich mich seltsam mit ihm verbunden. Meine innere Stimme flüsterte mir zu: Dies ist dein Sohn, dies ist das Kind, das du nie hattest. Ich wollte ihm helfen, ich besuchte ihn und seinen Mitgefangenen

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