Der rauchblaue Fluss (German Edition)
es wert, fuaji. Von hier oben hat man alles im Auge, was da draußen vor sich geht.«
»Das stimmt.«
»Diese Geschichte im Dezember – du hast doch bestimmt alles gesehen, oder?«
»Welche Geschichte?«
»Als da unten jemand hingerichtet werden sollte. Wie hieß er noch gleich – Ho-soundso?«
»Kai nahi – wie auch immer.«
Bahram sank in seinen Sessel zurück und wischte sich die Stirn. »Entschuldige, beta, ich habe noch zu arbeiten … «
»Natürlich, fuaji. Ich komme später noch mal.«
Für den Rest des Tages vermied es Bahram, auf den Maidan hinunterzuschauen, und hielt sich vom Fenster fern. Doch gerade als er zu Bett gehen wollte, hörte er ungewohnte Laute von draußen, eine Art Gesang, von Beckenklängen begleitet.
Es war unmöglich, nicht hinauszuschauen. Er schob die Vorhänge beiseite und sah, dass sich mitten auf dem Maidan etwa ein Dutzend Menschen versammelt hatten. Flackernde Kerzen standen dicht an dicht vor ihnen auf dem Boden und warfen einen schwachen Schein auf ihre Gesichter. Es waren alles Chinesen, aber andere, als man sie normalerweise auf dem Maidan sah. Einige trugen Gewänder taoistischer Priester, auch der Mann, der den Gesang anführte.
Plötzlich erinnerte sich Bahram, auf einem von Chi-meis Booten einmal etwas Ähnliches gesehen zu haben. Chi-mei hatte sich immer sehr vor ruhelosen Geistern und hungrigen Gespenstern gefürchtet, und irgendein unbedeutender Vorfall hatte sie veranlasst, einen Priester zu rufen. Als Bahram jetzt aus dem Fenster sah, fragte er sich, ob die Männer auf dem Maidan nicht einen Exorzismus durchführten. Aber für wen? Und warum dort, an eben der Stelle, an der an jenem Tag der Galgen errichtet worden war?
Er zog heftig an der Klingelschnur, und gleich darauf kam Vico hereingeeilt. »Patrão?«, fragte er mit besorgter Miene. »Was ist?«
Bahram winkte ihn ans Fenster.
»Sehen Sie die Leute da unten, Vico? Sehen Sie, wie die singen? Und der dort, der so mit den Händen fuchtelt und Räucherwerk anzündet, ist das nicht eine Art Priester?«
»Kann sein, Patrão. Wer weiß?«
»Hat man nicht an dem Tag im Dezember diesen Burschen genau dorthin gebracht?«
Vico zuckte die Schultern und schwieg.
»Was machen die, Vico? Ist das ein Exorzismus?«
Vico zuckte erneut die Schultern und wich seinem Blick aus.
»Was hat das zu bedeuten, Vico?«, drängte Bahram. »Ich will es wissen. Haben andere auch gesehen, was ich in jener Nacht im Nebel gesehen habe? Haben Sie irgendetwas in der Art gehört?«
Vico seufzte und zog die Vorhänge zu. »Hören Sie, Patrão«, sagte er in einem Ton, als beruhigte er ein Kind, »was hat es für einen Sinn, sich über das alles Gedanken zu machen? Was nützt das?«
»Sie verstehen nicht, Vico. Mir wäre wohler, wenn ich wüsste, dass ich nicht der Einzige bin, der es gesehen hat – was immer es war.«
»Ach, Patrão, lassen Sie’s gut sein, ja?«
Vico ging zu Bahrams Nachttisch und goss ein ordentliches Quantum Laudanum in ein Glas.
»Hier, Patrão, trinken Sie das, dann geht es Ihnen besser.«
Bahram nahm das Glas und leerte es in einem Zug. »Ist gut,Vico«, sagte er und stieg ins Bett. »Sie können jetzt gehen.«
In der Tür – er hatte schon die Hand auf dem Knauf – blieb Vico noch einmal stehen.
»Patrão, Sie dürfen nicht zulassen, dass Ihre Gedanken so mit Ihnen durchgehen. So viele Menschen sind auf Sie angewiesen, hier und in Hindustan. Sie müssen stark sein, Patrão, um unseretwillen. Sie dürfen uns nicht im Stich lassen, Sie dürfen nicht die Nerven verlieren.«
Bahram lächelte. Das Laudanum tat seine Wirkung, seine Ängste verflüchtigten sich, und eine wohlige Wärme breitete sich langsam in seinem Körper aus. Er konnte sich kaum erinnern, warum ihm wenige Augenblicke zuvor noch so beklommen zumute gewesen war.
»Keine Sorge, Vico«, sagte er. »Mir fehlt nichts. Es wird alles gut.«
Das Gold in Asha-didis Zähnen schimmerte, als sie aufstand, um Nil in ihrer schwimmenden Garküche zu begrüßen.
»Namashkar, Anil-babu!«, sagte sie und geleitete ihn durch das bemalte Portal. »Sie kommen gerade recht. Hier ist jemand, den Sie kennenlernen müssen, jemand aus Kalkutta.«
Am anderen Ende des Küchenbootes saß wie eine Statue eine in ein formloses Gewand gehüllte Gestalt. Die matronenhafte Figur, der knollige Kopf und die lang herabfließenden Locken waren so charakteristisch, dass es keinen Zweifel geben konnte, um wen es sich handelte. Nil blieb abrupt stehen, doch für
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