Der rauchblaue Fluss (German Edition)
er ohne diesen seltsamen Mann, der einerseits so durchtrieben, andererseits aber von solch unerklärlichen Vorstellungen und Loyalitäten erfüllt war, nicht von der Ibis entkommen. Der Babu war für ihn im Grunde so etwas wie eine Schutzgottheit, ein Schutzgeist, und dass er sich in Kanton aufhielt, hatte nichts Beängstigendes – es war ein Geschenk.
»Ich freue mich, Sie zu sehen, Babu Nob Kissin«, sagte er. »Sie müssen entschuldigen, dass ich mich nicht gleich zu erkennen gegeben habe. Wenn ich versucht habe, Sie zu täuschen, dann geschah das nur wegen Mr. Burnham. Sollte er erfahren, dass ich hier bin, ist alles aus für mich.«
»Wie sollte er es erfahren?«, sagte Babu Nob Kissin. »Außer mir weiß es niemand, und Sie können sicher sein, dass ich es ihm nicht sagen werde.«
»Und wenn er mich erkennt?«
»Oh, da brauchen Sie keine Angst zu haben.« Babu Nob Kissin lachte. »Sie sehen so verändert aus, dass selbst ich Sie erst nicht erkannt habe. Und Mr. Burnham kann einen Inder nicht vom anderen unterscheiden. Wenn Sie sich nicht verraten, wird er Sie nicht erkennen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
Nil atmete erleichtert auf. »Achha to aro bolun – erzählen Sie mir noch mehr, Babu Nob Kissin, erzählen Sie mir von meiner Frau, meinem Sohn … «
Gegen Ende Januar, als William Jardines Einschiffung nach England näher rückte, waren sich seine Freunde und Anhänger darin einig, dass seine Abreise nicht wie eine Niederlage oder – schlimmer noch – wie ein Schuldeingeständnis aussehen durfte (denn es war kein Geheimnis, dass die »eisenköpfige Ratte« für die chinesischen Behörden ein Erzverbrecher war). Die Vorbereitungen für sein Abschiedsessen wurden daher mit provozierendem Aufwand betrieben, und schon lange vorher war jedermann klar, dass es die prächtigste Veranstaltung werden würde, die Fanqui-Town je erlebt hatte.
Das Dinner sollte in der Company Hall stattfinden, dem größten und prunkvollsten Saal in der Ausländerenklave. Sie befand sich im »Konsulat«, wie Haus Nr. 1 in der britischen Faktorei von den Ausländern genannt wurde.
Den Achha Hong trennte von der britischen Faktorei nur die Hog Lane, und von Bahrams daftar aus konnte man genau sehen, wer im Konsulat ein und aus ging. Bahram war zwar kein enger Freund von Jardine, aber er war durchaus nicht unempfänglich für den Wirbel, den das bevorstehende Dinner verursachte. So geräuschvoll und weithin sichtbar gestalteten sich die Vorbereitungen, dass sie ihm sogar halfen, seine wachsende Abneigung gegen den Blick aus seinem Fenster zu überwinden. Wenn er jetzt hinausschaute, sah er ab und zu lange Reihen von Kulis, die sich mit Getreidesäcken und Eimern voll Gemüse ihren Weg über den Maidan bahnten. Eines Nachmittags vernahm er plötzlich ein lautes Grunzen und Quieken, eilte ans Fenster und sah eine Schweineherde vorbeistürmen; die Tiere verschwanden im britischen Hong und wurden nie wieder gesehen. Am nächsten Tag bot sich ihm ein noch ungewöhnlicherer Anblick: Enten watschelten in einer langen Kette über den Maidan und brachten den gesamten Fußgängerverkehr zum Stillstand. Noch ehe der letzte der Vögel das Boot in Jackass Point verlassen hatte, langten die ersten bereits am Konsulat an.
Selbst das äußere Bild des britischen Hongs begann sich zu verändern. Zur Company Hall gehörte eine weitläufige Säulenveranda, die sich über den Eingang erstreckte und auf den »Respondentia Walk« hinausging, den eingezäunten Garten vor der Faktorei. Für die Dauer des Dinners sollte die Veranda in einen »Salon« umgewandelt werden; Dekorateure machten sich ans Werk und verkleideten die Seiten mit riesigen Flächen weißer Leinwand. Wenn nun nach Einbruch der Dunkelheit Dutzende von Lampen auf der Veranda brannten, wurde sie zu einer monumentalen Laterne.
Das Schauspiel zog Neugierige aus der ganzen Stadt an. Das chinesische Neujahrsfest rückte näher, und das erleuchtete Konsulat wurde zu einer zusätzlichen Attraktion für die wachsende Zahl der Ausflugsboote auf dem Perlfluss.
Bahram hatte unterdessen mit seinen eigenen Vorbereitungen für Jardines Abschied begonnen. Als Rangältester der Achhas in Kanton hielt er es für seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Gruppe bei der Veranstaltung nicht unbeachtet blieb, und sei es nur, um die Welt daran zu erinnern, dass die Ware, die Jardine reich gemacht hatte – das Opium – , aus Indien stammte und ihm von seinen Partnern in Bombay
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