Der rauchblaue Fluss (German Edition)
wahrhaft großer Mann: Es zeugt von Größe, den eigenen Landsleuten so entschlossen entgegenzutreten, zumal wenn man ganz allein dasteht und wenn man weiß, dass auch die Geschichte nicht freundlich mit einem verfahren wird, weil man all die Behauptungen, mit denen die Mächtigen sich freizusprechen suchen, ein für allemal Lügen gestraft hat.
Seltsamerweise glaube ich, dass der Einzige, der Charlies Mut und Aufrichtigkeit wirklich zu schätzen weiß, der Hochkommissar ist. Aber vielleicht ist das nicht weiter verwunderlich, denn ich nehme an, er befindet sich in einer Lage, die der von Charlie nicht ganz unähnlich ist. Seine Maßnahmen sind doch recht unpopulär, auch unter den Chinesen, und soweit ich weiß, hat er sich eine Unzahl Feinde gemacht. So viele in diesem Land sind durch das Opium reich geworden, und ich bin sicher, sie schmähen den Kommissar genauso, wie viele Fanquis Charlie schmähen. Vielleicht verbindet das die beiden: In einer Welt, in der Korruption und Gier an der Tagesordnung sind, bleiben sie unbestechlich – kein Wunder also, dass sie damit bei ihresgleichen Abscheu hervorrufen.
Doch wie auch immer – es kann keinen Zweifel geben, dass tatsächlich irgendwelche Bande zwischen Kommissar Lin und Charlie bestehen. Der Kommissar hat sogar eine Belobigung Charlies veröffentlicht, die eine Zeit lang in ganz Fanqui-Town angeschlagen war (wie das auf Mr. Dent und seinesgleichen gewirkt hat, kannst Du Dir vorstellen!).
Als vor einigen Tagen mit der Vernichtung des ausgelieferten Opiums begonnen wurde, war Charlie als einer der wenigen Ausländer anwesend. Er beschrieb mir die Szene ausgesprochen anschaulich und detailliert, und ich war so begeistert, dass ich beschloss, sie zu malen. Ich habe auch schon ein paar Skizzen angefertigt, und Charlie meint, sie stimmen genau!
Schauplatz ist ein kleines Dorf unweit einer Stadt namens Bogue, eine sumpfige, von Wasserläufen durchzogene und von Reisfeldern umgebene Fläche. Dort hat man ein Areal abgesteckt und darin Gräben ausgehoben; die Opiumkisten werden nahebei gestapelt. Zum Schutz vor Plünderern werden sie Tag und Nacht bewacht, und alle, die dort arbeiten, werden beim Betreten und Verlassen des Geländes durchsucht.
Es werden von Tag zu Tag mehr Kisten, in Partien von jeweils hundert, bis alle zwanzigtausenddreihunderteinundachtzig herbeigeschafft sind. Ihr Gesamtwert übersteigt fast menschliches Vorstellungsvermögen: Laut Zadig Bey bräuchte man, um sie zu kaufen, Hunderte Tonnen Silber. (Kannst Du Dir das vorstellen, liebe Paggli, ein ganzer Hügel aus Silber? Und all das Opium sollte in einer einzigen Saison verkauft werden – wird einem da nicht ganz schwindlig?)
Aber da lagert sie nun, die große Opiumausbeute, und es kommt der Tag, an dem Kommissar Lin ihre Vernichtung einleitet. Und was macht er am Vorabend der Zeremonie? Er setzt sich hin und schreibt ein Gedicht , ein Gebet an den Gott des Meeres, er möge die Wassertiere vor dem Gift schützen, das nun ins Meer fließen wird.
Als der richtige Zeitpunkt gekommen ist, nimmt er in einem erhöhten Pavillon Platz und gibt von dort aus das Startsignal. Die Kisten werden geöffnet, die Opiumkugeln werden aufgebrochen, das Opium wird mit Salz und Kalk vermischt und in die Wassergräben geschüttet. Wenn es sich aufgelöst hat, werden die Schleusen geöffnet und es rinnt in den Fluss. Es ist Schwerarbeit: Fünfhundert Mann können bei langer Arbeitszeit nur dreihundert Kisten am Tag vernichten.
Das war die Szene, die sich Charlie bot, als er dort anlangte. Der Kommissar saß in seinem Pavillon, und Charlie wurde sogleich zu ihm geführt. Zum ersten Mal fand er sich von Angesicht zu Angesicht mit ihm, und zu seiner Überraschung war der Kommissar ganz anders, als seine Feinde ihn geschildert hatten: ein lebhafter, ja geradezu temperamentvoller Mann, jung wirkend für sein Alter, klein und recht beleibt, mit einem glatten, vollen Gesicht, einem dünnen schwarzen Bart und scharf blickenden, schwarzen Augen. Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten fragte er, wen von den Cohong-Kaufleuten Charlie für den ehrlichsten halte. Als Charlie nicht gleich zu antworten vermochte, brach er in schallendes Gelächter aus!
Ist das nicht ein herrliches Tableau, meine liebste Paggli? Ich beabsichtige, es »Kommissar Lin und der Opiumfluss« zu nennen.
Charlie war vor Freude außer sich, als er sah, wie sich das Rauschgift in Aschehaufen verwandelte, statt in den Bordellen zahlloser Städte
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