Der rauchblaue Fluss (German Edition)
sich ausländische Schiffe den Stempel abholen, der es ihnen gestattete, den Perlfluss hinauf nach Kanton zu segeln. Am Ostende der Flussmündung lag eine größere Insel namens Hongkong, ein windiger, dünn besiedelter Ort; die Menschen, die hier lebten, hatten offenbar nichts dagegen, dass Ausländer, Männer wie Frauen, an Land gingen. Fitcher war einmal dort gewesen. Das einzige Mal, dass er hier Gelegenheit gehabt hatte, auf chinesischem Boden in freier Natur Pflanzen zu sammeln, und dabei einige schöne Orchideen gefunden hatte. Er hatte sich immer gewünscht, noch einmal auf die Insel zurückzukehren und sie gründlich zu erkunden.
»Einen besseren Ort könnten Sie sich kaum wünschen, Miss Paulette«, sagte Fitcher. »Dort können Sie nach Herzenslust botanisieren, ganz wie Sie es sich erhofft haben.«
Wie immer umarmte Zadig Bahram zur Begrüßung und küsste ihn auf beide Wangen. Erst als sie zurücktraten und einander musterten, bemerkte Bahram, dass sein alter Freund sich auffällig verändert hatte.
»Arré, Zadig Bey!«, sagte er. »Sie sind ein weißer Mann geworden! Ein Sahib!«
Zadig trug Segeltuchhosen, ein Hemd mit steifem Kragen, Jackett und Krawatte. Er schaute leicht verlegen auf seine Kleidung und machte eine wegwerfende Geste. »Lachen Sie nicht zu laut, mein Freund«, sagte er. »Eines Tages werden Sie vielleicht auch solche Sachen tragen. In einer Stadt wie dieser kann das manchmal nützlich sein.«
Sie befanden sich im Salon der Eigner-Suite, wo zwei große chinesische Sessel an ein offenes Fenster gerückt worden waren. Bahram bot Zadig einen davon an und sagte: »Ich hoffe, Sie sind nicht schon zu europäisch für etwas Betel geworden.«
»Nein«, sagte Zadig lächelnd. »Noch nicht.«
»Gut!« Bahram machte einem Khidmatgar ein Zeichen, und der Mann entfernte sich, um das Betelkästchen zu holen.
Zadig hatte sich unterdessen in dem Salon umgesehen, in dem er schon oft zu Besuch gewesen war. »Nur gut, dass hier nichts beschädigt worden ist«, sagte er. »Der Vorderteil des Schiffes sieht ja schrecklich aus.«
»Ja«, sagte Bahram. »Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen. Einen solchen Sturm habe ich noch nie erlebt. Zwei unserer Laskaren sind über Bord gefegt worden. Und mein alter parsischer Munshi ist ums Leben gekommen, in seiner Kabine. Auch ein paar Laderäume sind überschwemmt worden.«
»Hat die Fracht Schaden genommen?«
»Ja. Wir haben dreihundert Kisten verloren.«
»Opium?«
»Ja.«
»Dreihundert Kisten!« Zadig zog die Augenbrauen hoch. »Zu den Preisen von vorigem Jahr hätten Sie sich davon zwei neue Schiffe kaufen können!«
Der Khidmatgar erschien mit einer silbernen Schatulle und stellte sie auf ein Teetischchen. Bahram öffnete sie, nahm ein frisches grünes Betelblatt heraus und bestrich es sorgfältig mit weißem Kalk.
»Als ich von dem Wassereinbruch im Laderaum hörte«, sagte Bahram, »bin ich nachsehen gegangen. Das Wasser stand so hoch da drinnen, dass ich gestürzt bin, und dann ist etwas sehr Seltsames passiert.«
»Ja? Sprechen Sie weiter, Bahram-bhai, ich höre zu.«
Bahram griff nach einer Betelnuss und schnitt sie mit einer silbernen Zange in Scheiben. »Einen Moment lang habe ich geglaubt, ich würde ertrinken. Und Sie haben sicher gehört, was ein Ertrinkender angeblich sieht?«
»Ja.«
»Ich dachte, ich sehe Chi-mei. Deshalb bin ich so froh, dass Sie da sind, Zadig Bey. Ich möchte wissen, was Sie über Chi-mei und Freddy in Erfahrung bringen konnten, als Sie das letzte Mal in Kanton waren.«
Bahram faltete das Betelblatt zu einem Dreieck und gab es Zadig, der es in seine Backentasche schob.
»Es tut mir leid, Bahram-bhai, aber ich habe nicht viel zu berichten. Ich ging in die schwimmende Stadt und hielt Ausschau nach Chi-meis Küchenboot, aber es war nicht da. Also suchte ich Ihren alten Komprador Chunqua auf, und er erzählte mir, was passiert war.«
Bahram griff wieder zu der Zange. »Ja, und? Erzählen Sie.«
Zadig zögerte. »Es ist eine hässliche Geschichte, Bahram-bhai, deshalb wollte ich es Ihnen nicht schreiben. Ich hielt es für besser, es Ihnen persönlich mitzuteilen.«
»Weiter«, drängte Bahram. »Was ist passiert?«
»Ein Raubüberfall. Diebe sind an Bord des Küchenboots gekommen, und Chi-mei hat versucht, sie zu verjagen. Dabei ist es passiert.«
Bahrams Hand erstarrte, und die Zange entglitt seinen Fingern. »Soll das heißen, sie wurde ermordet?«
»Ja, mein Freund«, sagte Zadig. »Es macht mich
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