Der rauchblaue Fluss (German Edition)
traurig, dass ich derjenige sein muss, von dem Sie es erfahren.«
»Und Freddy?«
»Über ihn konnte mir Chunqua nichts sagen. Er ist kurz vor Chi-meis Tod verschwunden.«
»Glauben Sie, ihm könnte auch etwas zugestoßen sein?«
»Wer kann das wissen?«, sagte Zadig. »Aber Sie sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vielleicht ist er nur weggefahren. Ich habe gehört, seine Schwester hat geheiratet und ist nach Malakka übersiedelt; vielleicht ist er ihr ja gefolgt.«
Bahram dachte an seine letzte Begegnung mit Chi-mei vor drei Jahren zurück, auf dem letzten Boot, das sie sich gekauft hatte. Es war groß und reich verziert, mit einem Heck wie ein aufgebogener Fischschwanz. Er hatte sich von ihr verabschiedet, vor seiner Rückreise nach Bombay. Ihre Beziehung war schon seit Längerem durch kameradschaftliche Vertrautheit gekennzeichnet, und er kam oft zum Abendessen auf ihr Boot. In gewisser Weise waren sie so etwas wie ein altes Ehepaar geworden. Chi-mei kochte normalerweise nicht, wenn Bahram sie besuchte. Ihr Repertoire beschränkte sich auf die feine kantonesische Küche, und sie wusste, dass er schärfer gewürzte Speisen vorzog. Deshalb ließ sie von benachbarten Booten Dan-dan-Nudeln, Hühnerfleisch und manchmal feurig-scharfe sichuanesische Kutteln holen. Wenn das Essen kam, servierte sie es ihm selbst, setzte sich ihm gegenüber und vertrieb mit einem Fächer die Fliegen. Im Lauf der Jahre hatte sie eine etwas stattlichere Figur und ein rundlicheres Gesicht bekommen, aber ihre Kleider waren wie früher von sackähnlichem Schnitt und strenger Farbe. Es störte ihn, dass sie so wenig Wert auf ihr Äußeres legte, und er fragte sie, warum sie nie etwas von dem Schmuck trug, den er ihr geschenkt hatte. Daraufhin holte sie eine Brosche aus Gold und Jade, heftete sie an ihren Kittel und fragte ihn mit breitem Lächeln: »Mister Barry so viel glücklich jetzt?«
Hatten es die Räuber auf ihren Schmuck abgesehen? Er stellte sich vor, wie sie versucht hatte, ihre Messer abzuwehren, und ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf: ein Riss in ihrem Kittel, dort, wo sie die Brosche angesteckt hatte, und Blut, das aus ihrer Brust quoll.
Bahram schlug die Hände vors Gesicht. »Unfassbar. Ich kann es nicht fassen. Ich kann es nicht fassen.«
Zadig trat neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist schwer für Sie, nicht wahr?«
»Ich kann es nicht glauben, Zadig Bey.«
»Wissen Sie noch, mein Freund«, sagte Zadig sanft, »wie wir all die Jahre hindurch von der Liebe gesprochen haben? Sie sagten, das zwischen Ihnen und Chi-mei sei keine Liebe. Es sei etwas anderes.«
Bahram wischte sich über die Augen und räusperte sich. »Ja, Zadig Bey, ich erinnere mich genau.«
Zadig drückte Bahrams Schulter. »Vielleicht hatten Sie doch nicht recht?«
Bahram musste mehrmals schlucken. »Schauen Sie, Zadig Bey, ich bin nicht wie Sie – ich denke nicht über solche Dinge nach. Vielleicht stimmt es, was Sie sagen, vielleicht kamen meine Gefühle für Chi-mei dem ganz nahe, was Sie Liebe nennen. Aber was spielt das noch für eine Rolle? Chi-mei ist tot, nicht wahr? Ich muss weitermachen. Ich habe eine Ladung, die ich verkaufen muss.«
»Das stimmt. Sie müssen nach vorn schauen, Bahram-bhai.«
»Genau. Also sagen Sie mir, Zadig Bey, kommen Sie mit mir nach Kanton? Auf der Anahita ? Ich gebe Ihnen auch eine schöne Kajüte.«
»Aber gern, Bahram-bhai! Es wird mir ein Vergnügen sein, wieder einmal mit Ihnen zu reisen.«
»Gut! Wann kommen Sie an Bord?«
»Lassen Sie mir ein, zwei Tage Zeit, dann bin ich mit meinem Gepäck zur Stelle.«
Nachdem Zadig gegangen war, hielt es Bahram nicht mehr in seiner Kajüte. Zum ersten Mal seit dem Sturm beschloss er, aufs Hauptdeck hinaufzugehen.
Er hatte sich vor dem Moment gefürchtet, in dem er zum ersten Mal mit eigenen Augen das Loch im Bug der Anahita sehen würde, und der Anblick war noch schockierender, als er gedacht hatte. Der Klüverbaum war zwar schon ersetzt worden, doch dass die Galionsfigur fehlte, war kaum zu ertragen.
»Ich halte das nicht aus, Vico«, sagte er. »Ich muss wieder nach unten.«
Was ihn so schmerzte, war weniger der Verlust selbst als dessen Wirkung auf die Mistries und vor allem auf Shirinbai, die viel auf Vorzeichen aller Art gab. Bahrams Weigerung, böse Omen und Orakel ernst zu nehmen, hatte immer wieder Anlass zu Zwistigkeiten zwischen ihnen gegeben. Shirinbai hatte nie ein Hehl aus ihrer Überzeugung gemacht, dass dies
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