Der rauchblaue Fluss (German Edition)
der Hauptgrund für die größte der vielen Enttäuschungen in ihrer Ehe war: dass sie keinen Sohn hatten.
Shirinbai war in einer Familie starker, selbstbewusster Männer aufgewachsen, und obgleich sie beide ihre Töchter abgöttisch liebten, wünschte sie sich schon seit Langem auch einen Sohn. Um diesen Wunsch wahr werden zu lassen, hatte sie viele Zauberbrunnen aufgesucht, allerlei magische Steine berührt, zahllose Schnüre gebunden und den Segen ganzer Heerscharen von Pirs, Fakiren, Swamis, Sants und Heiligen gesucht. Dass nichts davon zum Erfolg geführt hatte, schien sie nur noch in ihrem Glauben an die Kraft dieser Vermittler zu bestärken. Oft drang sie in Bahram, sich ihren Bemühungen anzuschließen: »Warum nur kommst du nicht mit?«
Einmal, vor vielen Jahren, hatte sie ihn zu einem ihrer Gurus mitgenommen. Irgendwie hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, dass dieser Mann sie von ihrer Unfähigkeit, einen Sohn zu gebären, heilen könne, und hatte so lange nicht lockergelassen, bis er klein beigegeben hatte. Bahram hatte sich monatelang geweigert, und erst, als sie geltend machte, dass ihre fruchtbaren Jahre bald zu Ende gehen würden, hatte er sich erweichen lassen und um des lieben Friedens willen ihrer Bitte entsprochen. Der Fruchtbarkeitszauberer erwies sich als ein stark behaarter, mit Asche bedeckter Sadhu, der im Dschungel von Borivli lebte, zwei Stunden von der Stadt entfernt. Er stellte Bahram viele Fragen und fühlte immer wieder seinen Puls. Nach endlosem Grübeln und wiederholtem gutem Zureden verkündete er dann, die Wurzel des Übels sei ihm enthüllt worden. Der Fehler liege nicht bei Shirinbai, sondern bei ihm, Bahram. Die Manneskräfte seiner Körperflüssigkeiten, sagte er, seien aufgrund seiner häuslichen Umstände erschöpft. Es könne auch kaum anders sein bei einem ghar-jamai. Ein Mann, der mit der Familie seiner Frau unter einem Dach lebe, werde durch die Abhängigkeit von seinen Schwiegereltern unweigerlich geschwächt. Ihn dahin zu bringen, dass er wieder stark genug werde, um einen Sohn zu zeugen, werde nicht leicht sein; es könne aber gelingen, wenn er, Bahram, sich bereitfinde, bestimmte Tränke zu sich zu nehmen, gewisse Salben aufzutragen und natürlich dem Aschram des Sadhus sehr hohe Zuwendungen zu machen.
Bahram war während der ganzen Sitzung ungewöhnlich ruhig geblieben, doch am Ende ließ er seinem Unmut freien Lauf und fragte den Mann: »Sind Sie sicher, dass Sie wissen, wovon Sie reden?«
Der alte Mann, dessen vom Star getrübte Augen schlau aufblitzten, lächelte ihm freundlich zu und erwiderte: »Warum? Haben Sie Grund zu der Annahme, dass Sie imstande sind, einen männlichen Nachkommen zu zeugen?«
Bahram begriff sofort, dass der alte Mann ihm eine raffinierte Falle gestellt hatte: Wenn er ihn als Schwindler hinstellte, hätte Shirinbai zweifellos Verdacht geschöpft. Die Alternative würde ihn zwar teuer zu stehen kommen, aber diese Ausgaben waren verschwindend gering im Vergleich zu dem Preis, den er zu zahlen hatte, wenn herauskam, dass er bereits einen Sohn – ein illegitimes Kind – gezeugt hatte. Kurz zuvor hatte eine ähnliche Enthüllung einen regelrechten Skandal ausgelöst. Der betreffende Mann, ein mit Bahram bekannter Händler, war aus dem panchayat, dem parsischen Ältestenrat, ausgeschlossen worden. Dadurch war er nicht nur zu einem Ausgestoßenen geworden, einem Paria, dem kein Parse auch nur ein Zimmer vermietet hätte, sondern stand auch vor dem Ruin, weil niemand mehr Geschäfte mit ihm machen wollte. Bahram hätte fast jeden Preis bezahlt, um einem solchen Schicksal zu entgehen.
Doch als er die Frage verneinen wollte, versagte ihm die Stimme. Es war eines, das Thema stillschweigend zu übergehen, etwas ganz anderes jedoch, die Existenz seines Sohnes ausdrücklich zu leugnen, so zu tun, als hätte er keinen Anteil daran gehabt, dass sein leibliches Kind das Licht der Welt erblickte. Vaterschaft und Familie waren für ihn fast so etwas wie eine Religion, und die heiligen Blutsbande zu tilgen, die ihn nicht nur mit seinem Sohn, sondern auch mit seinen Töchtern vereinten, wäre gewesen, wie den eigenen Glauben zu verleugnen.
Der Sadhu, der sein Dilemma ahnen mochte, sagte: »Sie haben meine Frage nicht beantwortet … «
Bahram spürte den bohrenden Blick seiner Frau, und nachdem er einmal kräftig geschluckt hatte, brachte er doch noch hervor: »Nein. Sie haben recht, der Fehler muss bei mir liegen. Ich werde mich der Behandlung
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