Der rauchblaue Fluss (German Edition)
er sich zweimal bereit, seine Abreise zu verschieben, bis die Zeichen günstiger standen. Doch als das nach vierzehn Tagen noch immer nicht der Fall war und er allmählich befürchten musste, den Beginn der Handelssaison in Kanton zu verpassen, hatte er einen Abreisetag festgesetzt und erklärt, länger könne er nicht warten.
Als dieser Tag anbrach, ging alles schief. Im Morgengrauen war der Ruf einer Eule zu hören, ein böses Vorzeichen, und dann wurde sein Turban auf dem Boden gefunden, er war in der Nacht heruntergefallen. Schlimmer noch: Beim Anziehen zerbrach Shirinbai, die Bahram zum Hafen begleiten wollte, ihr roter Hochzeitsarmreif. In Tränen flehte sie ihn erneut an, nicht zu fahren: »Tame na jao. Du weißt, was es für eine Ehefrau bedeutet, wenn ihr Armreif zerbricht, nicht wahr? Selbst wenn du nichts für mich empfindest – was ist mit der Familie? Sind dir deine Töchter und ihre Kinder auch gleichgültig? Jara bhi parvah nathi – ist dir alles egal … ?«
Etwas in ihrer Stimme machte es Bahram unmöglich, ihr auf seine gewohnt nachsichtige Art zu antworten. Es lag eine Dringlichkeit, eine Verzweiflung in ihren Bitten, die ihm neu war. Es war, als sähe sie in ihm endlich doch mehr als einen Ersatz für den Ehemann, den sie hätte bekommen sollen, als wären ihre Gefühle für ihn nach vierzig Jahren, in denen sie ihre ehelichen Pflichten mit apathischer Gewissenhaftigkeit erfüllt hatte, plötzlich zu etwas anderem gereift.
Dass das ausgerechnet jetzt geschah, dass er sich jetzt einem so nackten, so unmittelbaren Gefühl stellen musste, nachdem er ein Leben lang mit ihrer Enttäuschung und ihrer pflichtschuldigen Gleichgültigkeit hatte zurechtkommen müssen, erschien ihm zutiefst ungerecht. Wäre es auch nur einen Tag früher geschehen, hätte er ihr womöglich von Chi-mei und Freddy erzählt, doch da das Schiff auslaufen musste, konnte er jetzt nicht davon sprechen. So legte er nur den Arm um Shirinbai, die mit dem zerbrochenen Armreif in der Hand auf der Kante des Ehebetts saß. Ihre schlanke Gestalt war von Kopf bis Fuß in helle chinesische Brokatseide gehüllt. Ihr Sari war zwar vergleichsweise schlicht, doch der Stoff füllte den Raum mit einem milchigen Glanz. Sie trug keinen Schmuck außer ihren Armreifen, und die einzigen Farbtupfer an ihrem Körper waren die scharlachroten Jinjiang-Hausschuhe, die er ihr vor vielen Jahren in Kanton gekauft hatte.
Bahram bog langsam ihre Finger auf und nahm ihr den zerbrochenen Glasreif aus der Hand. »Hör zu, Shirinbai«, sagte er. »Lass mich noch dieses eine Mal fahren, und wenn ich zurückkomme, erzähle ich dir alles. Dann wirst du verstehen, warum es unvermeidlich war.«
»Wenn du zurückkommst? Aber was ist, wenn du … ?« Sie wandte den Blick ab, unfähig, den Satz zu vollenden.
»Shirinbai«, sagte Bahram, »meine Mutter hat immer gesagt: ›Die Gebete einer Ehefrau sind nie vergeblich.‹ Du kannst sicher sein, dass deine erhört werden.«
Was sollte aus ihnen werden?
Diese Frage lastete nicht nur auf Ah Fatt und Nil, sondern auch auf allen anderen, die den wöchentlichen Kleidermarkt im Kampung Chulia besuchten, wo viele der Kahnführer, Kulis und kleinen Händler von Singapur lebten. Es war eines der ärmsten Viertel der provisorischen neuen Stadt, einer aus dem Boden wachsenden Ansammlung von Pfahlbauten und Bambushütten, eingezwängt zwischen dem dichten Dschungel auf der einen und Sumpf- und Morastgebieten auf der anderen Seite.
Der Markt wurde auf einem offenen Feld abgehalten, an einem der Nebenflüsse des Singapore River. Die Straße, die dorthin führte, war nicht viel mehr als ein schlammiger Pfad, und die meisten Marktbesucher kamen per Boot. Aus dem malaiischen und dem chinesischen Teil der Stadt kamen die Menschen in Prauen und gemieteten Flussbooten, während Seeleute und Laskaren im Allgemeinen direkt von ihren Schiffen kamen, in bunt bemalten tongkangs, mit den Waren, die sie zu verkaufen oder einzutauschen hofften: Pullovern, die sie in ihren Putz- und Flickstunden gestrickt hatten, Kitteln aus zusammengenähtem Wantstropp oder Wadmal und Öl- oder Pijacken, die sie in den Seesäcken ertrunkener Schiffskameraden gefunden hatten.
Nil und Ah Fatt gehörten zu den wenigen, die zu Fuß hingingen, und nach einem langen Marsch auf einem kaum benutzten Weg waren sie auf einmal mittendrin in einem kunterbunten, lauten Gewühl am Ufer eines von Mangroven gesäumten Flusses. In Aussehen und Atmosphäre glich der Basar
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