Der Rebell - Schattengrenzen #2
greife ich bewusst nicht mehr darauf zurück.« Wieder versuchte sie, seinen Blick zu halten. Dieses Mal ging er darauf ein. In ihren hellen Augen lag etwas Beschwörendes. »Bei Christoph und meiner Freundin Melanie habe ich jeweils einen Teil meiner Seele aufgegeben, um sie zu retten. Im Gegenzug dazu ist ein kleiner Teil von Christoph in mir. Die Verbindung zu ihm kommt von dieser Sache. Wenn ich die Gabe nutze, bricht Stück um Stück meine Seele auseinander. Ich verliere meine Menschlichkeit dadurch. Das ist der Hauptgrund, nicht darauf zurückzugreifen.«
Oliver streckte ihr seine Hand hin. Aus irgendeinem Grund erfüllte ihn ihre Antwort mit Stolz. Sie handelte nicht unverantwortlich. Lächelnd drückte sie seine Finger, zog sich dann aber zurück und umarmte Michael.
Der nachdenklichen Mimik nach grübelte der Kleine stark über das nach, was sie gesagt hatte. Wahrscheinlich verstand er nicht viel, aber die Essenz blieb ihm nicht verborgen. Camilla war ein von Grund auf guter Mensch.
Immerhin hatte sich ein Teil des Rätsels gelöst.
Oliver zog sich Daniels Laptop heran. Was sagte der andere Satz aus?
Das, woran ich jetzt bin, betrifft auch dich, wenn auch nur am Rande.
Er legte die Stirn in Falten. Bis vor Kurzem kannten sie sich nicht.
Oliver musterte Camillas Profil erneut. Sie sah seiner Mutter wirklich ähnlich. Aber das war doch unmöglich. Camillas Eltern kamen aus Berlin, nicht aus Wiesbaden – ihr Vater sogar aus dieser unterirdischen Enklave. Wie also ließ sich hierbei ein mögliches Verwandtschaftsverhältnis konstruieren? Selbst wenn ihre Familie rund zwanzig Jahre in Frankfurt gelebt hatte, war das noch lang kein Beweis. Wie viel tausend Menschen lebten in Wiesbaden, die in keinem Verhältnis zu ihren Nachbarn aus Frankfurt standen?
Und wie viele sind verwandt mit Menschen aus der ganzen Welt?
Oh, da war er wieder, der kleine Dämon in seinem Kopf. Jetzt fühlte sich die Gegenwart des Störenfrieds an, als habe er einen lang vermissten Freund zurückgewonnen. Und er hatte recht. Laut Familienbibel hatte sich Rudolphs Bruder nach Berlin abgesetzt. Die Theorie entbehrte jeder Beweiskraft, aber es war zumindest ein Haken, an den er sich klammern konnte.
Camilla nagte wieder an ihrem Piercing. Was ging hinter ihrer Stirn vor sich? Hinter den Brillengläsern kniff sie die Augen zusammen und wirkte noch mehr wie seine Mutter.
Daniel zog sich den Rechner herum und öffnete einen Ordner. Er schien aufgeregt zu sein. Neue Energie flutete offensichtlich durch seinen ermüdeten Körper. Rasch fuhr er mit dem Touchpad den Cursor nach unten.
Neugierig schob sich Oliver dichter an ihn heran. Die Dateinamen flackerten immer wieder kurz blau auf, bis er an einem hängen blieb und mit Doppelklick öffnete. In der Windows - Fotogalerie öffnete sich eine ältere Aufnahme von Silke Hoffmann.
Ihm war die Ähnlichkeit auch aufgefallen.
Micha rutschte aus Camillas Armen und schaute über den Monitorrand auf den Bildschirm herab. »Du hast Bilder von Mama?« Leiser Vorwurf schwang in seiner Stimme mit.
»Ja, habe ich.« Er zögerte kurz. »Wenn ich im Büro bin, drucke ich sie dir aus. Ist das okay, Micha?«
Das freudige Nicken ging durch seinen ganzen Körper. »Und von Elli und Marc auch?«
Daniel wuschelte ihm durchs Haar. »Klar.«
Camilla tippte ihn an. »Lass mal sehen.«
Er drehte den Rechner noch etwas weiter.
Nachdenklich betrachtete sie die Frau auf dem Bildschirm. Ihre Stirn zog sich kraus.
»Wow, das ist eure Mutter?«
Oliver nickte. »Silke Hoffmann.«
»Sie ist meiner Ma nicht unähnlich, nur ihr Haar ist ein bisschen länger.« Sie zögerte. Mit einer Hand deckte sie die knapp schulterlangen Haare ab. »Ich habe sie vor ziemlich vielen Jahren schon mal gesehen. Aber dazu müsste ich meine Mutter fragen.«
Oliver rollte mit den Augen. »Du Dussel. Merkst du nicht, wie ähnlich du ihr siehst?«
»Für wie blöd hältst du mich, Olli? Den Zusammenhang zu Matthias’ kryptischem Gefasel konnte ich mir herleiten.«
Er stützte sich auf seine Knie. »Wenn zwischen uns ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, haben Chris und Micha vielleicht eine Möglichkeit, nicht im Heim zu enden.«
Sie gab einen undefinierbaren Laut von sich.
»Meine Eltern haben sich vor einem knappen Monat scheiden lassen. Sie wohnt in der Nähe von Christoph und mir und er in Frankfurt.« Sie schüttelte den Kopf. »Meiner Ma stelle ich euch echt gern vor. Sie ist im Moment meine beste Freundin, aber meinen
Weitere Kostenlose Bücher