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Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ausgestorbener als die anderen. Es war ein Seebad mit einem langen Strand, der von kleinen Villen und Familienpensionen gesäumt war.
    Am Strand waren nur zwei ältere Bauern, die ihre Hose hochgekrempelt hatten und ins Wasser gingen. Vielleicht war es das erste Mal, daß sie das Meer sahen. Es gab auf dem Lande noch viele Leute, die nur zu Einkäufen in die ihnen am nächsten gelegene Stadt fuhren, und zwar immer am Samstag.
    Lecoins Vater zum Beispiel war nie weiter als nach La Rochelle gekommen, außer in seiner Militärzeit. Für ihn war schon das Besteigen eines Busses ein Abenteuer. Er war glücklich in seinem Winkel und blieb dort. Er brauchte niemanden. Er schien sich nie zu langweilen, und manchmal sah man, wie er die Lippen bewegte. Er sprach mit sich selbst.
    Sie aßen auf der Glasveranda, und nach der Chaudrée bestellte Victor für sich Spanferkel, während seine Frau sich mit einem Salat begnügte. Sie aß nicht viel und war dennoch robust. Das sah man besonders, wenn sie ihr schwarzes Sonntagskleid trug, in dem sie wie eingeschnürt wirkte.
    Eine Stunde später waren sie wieder in La Rochelle und betrachteten die Kinoplakate. Sie gingen manchmal ins Kino, aber keiner der angekündigten Filme lockte sie.
    »Was machen wir jetzt?«
    »Was du willst.«
    Sie fuhren, um zu fahren, und gelangten so nach Fontenay-le-Comte. Lebten überhaupt Menschen in diesen Häusern mit verschlossenen Türen und Fenstern? Man fühlte sich in eine andere Welt versetzt, in der nur hin und wieder Autos vorüberkamen. In der Nähe der Brücke standen aber immerhin ein Angler und zwei Männer, die an der Brüstung lehnten und ihm zusahen.
    »Wie wäre es, wenn wir jetzt nach Hause führen?«
    Etwas Besseres konnte er sich gar nicht wünschen! Er war froh, Alice wiederzusehen, vielleicht mit ihr zu sprechen, ihr nur ein paar Worte im Vorübergehen zu sagen, um einen Kontakt herzustellen. Den ganzen Tag hatte sie ihm gefehlt, und er hätte wetten mögen, daß Jeanne es gemerkt hatte.
    Sonst war es ihm gar nicht peinlich, wenn sie ihm auf die Schliche kam. Im Gegenteil. Das beruhigte ihn. Es bestätigte ihm, daß, selbst wenn er sich mit Nutten amüsierte, er nichts Böses tat, nur von seinem Recht Gebrauch machte.
    Er war ein normaler Mann, verflucht noch mal, vielleicht nur etwas stärker als die meisten anderen. Er ließ sich nicht von Vorurteilen beeinflussen. Sein Leben ging niemanden etwas an, und wenn jemand das Privileg hatte, ihm etwas zu sagen, dann nur Jeanne.
    Aber Jeanne wußte schon seit langem, wie es mit ihm stand, und es verlangte sie nicht, sich auszuweinen oder die Beleidigte zu spielen. Ihr Zusammenleben ging wie am Schnürchen. Er mochte sie gern. Er schätzte sie.
    Sie hatte den Schlüssel und nahm ihn aus ihrer Handtasche, denn die Haustür war verschlossen.
    »Sie ist gewiß durch die Küche hineingegangen.«
    Aber nein. Alice war in keinem der Zimmer im Erdgeschoß, und die Küche war ebenfalls abgeschlossen.
    Sie hatten beide den gleichen Gedanken: Sie hatte sich ihre Abwesenheit zunutze gemacht, um zu türmen. Sicherlich war ihr das Haus zu ruhig erschienen; die tägliche Routine hatte sie gelangweilt.
    »Ich werde sehen, ob sie in ihrem Zimmer ist«, sagte er.
    Sie ließ ihn gehen, ohne etwas einzuwenden. Er ging ins Dachgeschoß hinauf und klopfte an die Tür des Mädchenzimmers. Da er keine Antwort bekam, ging er hinein. Das Zimmer war aufgeräumt, und der kleinkarierte Kittel lag auf dem Bett. Der Geruch war ihm fremd, ein Geruch, wie es ihn sonst nicht im Haus gab, der Geruch von Alice. In dem Schrank hing das schwarze Kleid und ein Baumwollkleid, das Jeanne ihr gewiß auch gekauft hatte.
    Er seufzte erleichtert. Er hatte Angst gehabt. Wenn sie für immer hätte weggehen wollen, hätte sie ihre persönlichen Sachen mitgenommen.
    »Sie ist nicht da«, sagte er, als er wieder hinunterkam. »Sie hat ihre Sachen nicht mitgenommen. Sie ist sicher spazierengegangen.«
    »Was machen wir? Wollen wir fernsehen?«
    Sie hatten sich den Apparat vor nicht langer Zeit angeschafft. Er stand im Salon, in dem sie sich nur aufhielten, um eine Sendung zu betrachten.
    »Ich gehe erst einmal ans Meer.«
    Das tat er oft. Er ging an ›Chez Mimile‹ vorbei und dann weiter bis zu dem Kieselstrand, an dem die Pfähle der Muschelbänke hoch aufragten.
    In weiter Ferne konnte man eine Gestalt sehen, eine Frau, die langsam über die Kiesel ging und hin und wieder einen ins Meer warf. Er glaubte, Alice zu erkennen. Er wagte

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