Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
einen erstickten Schrei aus.
    Nachdem ihr ganzer Körper sich versteift hatte, entspannte sie sich in seinen Armen.
    »Es hat dir nicht weh getan, nicht wahr?«
    »Nein.«
    Er küßte sie auf den Mund, und zum erstenmal öffnete sie die Lippen.
    Da erst zog er sich zurück.
     
     
    Er lag auf dem Rücken, eine Hand auf Alices nacktem Bauch. In die Mansarde fiel der Mondschein. Er sprach wie zu sich selbst, schwieg immer wieder, und in diesem Schweigen hörten beide das Herz des anderen schlagen.
    »Weißt du, ich habe auch eine schwere Jugend gehabt und bin sehr arm gewesen.«
    Er erzählte von sich, was er noch nie in seinem Leben getan hatte.
    »Als meine Mutter nach der Geburt meines Bruders Daniel starb, war ich gerade fünf Jahre. Mein Vater war Knecht. Er konnte uns nicht behalten, darum gab er uns bei einer alten Frau in Marsilly, die alle die Tati nannten, in Pflege.
    Sie erschien mir damals uralt, aber in Wirklichkeit war sie sicher höchstens sechzig. Sie wohnte in einem winzigen Haus am Ende eines Gäßchens. Es ist inzwischen abgebrannt.
    Sie war wahrscheinlich nicht böser als eine andere, aber ich haßte sie und behauptete, sie stinke.
    Mein Vater besuchte uns jeden Sonntag in dem schönen schwarzen Anzug, den er bei seiner Hochzeit getragen hatte.«
    Er sah die Tati wieder vor sich, die ein wenig Jeanne ähnelte, nur eben zwanzig Jahre älter war. Wie sie hatte sie eine stattliche Figur, einen ziemlich blassen Teint und starke Hände.
    Es war das erstemal, daß er eine Verbindung zwischen den beiden Frauen herstellte, die bis vor wenigen Tagen in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten.
    Er suchte nach dem Wort, das zu ihnen paßte und mit dem sie sich beschreiben ließen. Strenge? Härte? Sie hatten beide etwas davon. Die Tati war seit kurzem Witwe, und da sie über keine Geldmittel verfügte, hatte sie die beiden Kinder in Pflege genommen. Außerdem machte sie kleine Näharbeiten für die Frauen des Dorfes.
    Es hieß, sie sei sehr knapp bei Kasse, und es stimmte, daß bei Tisch die Portionen sehr klein gewesen waren.
    »Ich habe warten müssen, bis ich selbst meinen Lebensunterhalt verdiente, ehe ich mir neue Anzüge kaufen konnte. Unsere waren aus den alten vom Nachbarn oder denen ihres verstorbenen Mannes geschneidert.
    Heute ist mir klar, daß sie wenig verdiente und daß sie es einfach nicht besser machen konnte.
    In der Schule war ich der Größte und Stärkste, aber auch der Ärmste. Ich war nicht Klassenletzter, war aber auch kein sehr guter Schüler, und in meiner Freizeit hütete ich Kühe, um mir ein bißchen Geld zu verdienen.«
    Hörte sie zu? Langweilte es sie, daß er so aus seinem Leben erzählte? War es nicht besser, daß sie es kannte, um sich kein falsches Bild von ihm zu machen?
    Er schwelgte nicht in Selbstmitleid. Alles, was er sagte, stimmte.
    »Im Sommer sah ich meine Kameraden Eis essen. Manchmal wollte man mir eins spendieren, aber ich sagte dann, ich möge kein Eis. Warst du eine gute Schülerin?«
    »Eine ganz gute.«
    »Hast du ein Abschlußzeugnis?«
    »Ja.«
    »Ich nicht. Mein Bruder Daniel hat es. Ich bin mit dreizehn Jahren von der Schule abgegangen und zu einem Bauern gekommen, wo ich schon Männerarbeit verrichten mußte. Freilich, die Menschen, die mich nicht kannten, hielten mich für sechzehn oder siebzehn.
    Ich hatte damals schon beschlossen, reich zu werden, obwohl ich nicht recht wußte, was das bedeutete. Ein alter Herr wohnte in diesem Haus, das ich sehr schön fand, und ich sah ihn oft am Fenster sitzen und in einem dicken Buch lesen.
    Da war auch der Bauer, bei dem ich arbeitete. Der Hof gehörte einem Anwalt in La Rochelle, dem jeden Monat die Pacht gebracht wurde. Es war ›Les Quatre Vents‹, der mir jetzt gehört und den mein Bruder bewirtschaftet. Am letzten Sonntag, als du am Meer spazierengingst, warst du ganz nah bei dem Hof. Es ist der letzte vor Esnandes.«
    Er erhielt den Beweis, daß sie zuhörte.
    »Der gehört dir?«
    »Ja. Und auch noch anderes Land. Ich habe eine Weide in Charron, die ich an einen Metzger verpachte, damit sein Vieh dort Fett ansetzen kann.«
    Ihre heißen Körper berührten sich, fast zutraulich. Sie stieß die Hand des Mannes nicht zurück, die jetzt auf ihrer Scham ruhte.
    »Mein Bauer hatte eine alte Brieftasche, die er in die Gesäßtasche seiner Hose steckte, und wenn er jemanden bezahlen mußte, sah man ein dickes Bündel Geldscheine.
    Vielleicht behalte ich deswegen meine Brieftasche, obwohl sie schon sehr

Weitere Kostenlose Bücher