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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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an der Sache etwas ändern?
    Ich möchte gern ohne Scham sein. Ich möchte gern schamlos sein. Ich würde gern unwissend sein. Dann wüßte ich nicht, wie unwissend ich bin.
     

XIV
Errettung

Kapitel einundvierzig
    Ich wünschte, diese Geschichte verliefe anders. Ich wünschte, sie wäre zivilisierter. Ich wünschte, sie würde mich in einem besseren Licht zeigen, wenn nicht glücklicher, so doch zumindest aktiver, weniger zaudernd, weniger von Banalitäten abgelenkt. Ich wünschte, sie hätte mehr Form. Ich wünschte, es ginge um Liebe, oder um plötzliche Erkenntnisse, wichtig für das eigene Leben, oder auch nur um Sonnenuntergänge, Vögel, Regenstürme oder Schnee.
    Vielleicht geht es auch um solche Dinge, in gewisser Weise; aber zwischendurch kommt so viel anderes dazwischen, so viel Geflüster, so viele Spekulationen über andere, so viel Klatsch, der nicht geprüft werden kann, so viele ungesagte Worte, so viel Schnüffelei und Heimlichtuerei. Und so viel Zeit muß ertragen werden, Zeit, die schwer ist wie Gebratenes oder dichter Nebel. Und dann, ganz plötzlich, diese roten Ereignisse, wie Explosionen, auf Straßen, die sonst wohlanständig und würdig und somnambul sind.
    Es tut mir leid, daß in dieser Geschichte so viel Schmerz ist. Es tut mir leid, daß sie aus Fragmenten besteht – wie ein Körper, der in einen Kugelhagel geraten ist oder gewaltsam auseinandergerissen wurde. Aber ich kann nichts daran ändern.
    Ich habe versucht, auch ein paar von den schönen Dingen mit hineinzunehmen. Blumen, zum Beispiel, denn wo blieben wir ohne sie?
    Trotzdem schmerzt es mich, es wieder und wieder zu erzählen. Einmal war genug: war nicht auch damals einmal genug? Aber ich fahre fort mit dieser traurigen und hungrigen und schmutzigen, dieser hinkenden und verstümmelten Geschichte, denn schließlich möchte ich, daß ihr sie hört, so wie ich auch eure hören will, falls ich je die Gelegenheit bekommen werde, falls ich euch begegne oder falls ihr entkommt, in Zukunft oder im Himmel oder im Gefängnis oder im Untergrund oder irgendwo sonst. Was diese Orte gemeinsam haben, ist, daß sie nicht hier sind. Indem ich euch überhaupt etwas erzähle, glaube ich zumindest an euch, glaube ich daran, daß ihr da seid, ich glaube euch ins Dasein hinein. Da ich euch diese Geschichte erzähle, will ich auch eure Existenz. Ich erzähle, also seid ihr.
    Also werde ich fortfahren. Also zwinge ich mich, fortzufahren. Ich komme jetzt zu einem Teil, der euch gar nicht gefallen wird, weil ich mich darin nicht richtig verhalten habe. Aber trotzdem will ich versuchen, nichts auszulassen. Nach allem, was ihr durchgemacht habt, verdient ihr alles, was mir noch bleibt, was nicht viel ist, aber die Wahrheit einschließt.
     
    Hier also ist die Geschichte.
    Ich ging weiter zu Nick. Immer wieder, aus freien Stücken, ohne daß Serena davon wußte. Ich wurde nicht gerufen, es gab keine Entschuldigung. Ich tat es nicht für ihn, sondern ganz und gar für mich selbst. Ich verstand es auch nicht etwa als Hingabe an ihn, denn was hatte ich zu geben? Ich kam mir nicht großzügig vor, sondern war dankbar, jedesmal, wenn er mich einließ. Er brauchte es ja nicht zu tun.
    Und ich wurde leichtsinnig, ich ging dumme Risiken ein. Wenn ich beim Kommandanten gewesen war, ging ich auf dem üblichen Weg nach oben, doch dann ging ich den Flur entlang und hinten die Treppe der Marthas wieder hinunter und durch die Küche. Jedesmal hörte ich die Küchentür mit einem Klick hinter mir zufallen, und ich kehrte fast um, so metallisch klang es, wie eine Mausefalle oder eine Waffe, aber dann ging ich doch nicht zurück. Ich eilte über die wenigen Meter beleuchteten Rasen, die Flutlichter waren wieder eingeschaltet, und erwartete dabei jeden Augenblick, daß die Geschosse mich durchschlagen würden, noch vor dem Knall. Ich tastete mich die dunkle Treppe hinauf und blieb erst stehen, wenn ich an der Tür lehnte. Das Blut pochte in meinen Ohren. Angst ist ein machtvolles Stimulans. Dann klopfte ich leise, das Klopfen eines Bettlers. Jedesmal war ich darauf gefaßt, daß er fort sein könnte, oder, schlimmer noch, ich war darauf gefaßt, daß er sagen würde, ich könne nicht hereinkommen. Er konnte sagen, er wolle keine Regeln mehr verletzen und nicht mehr für mich den Hals riskieren. Oder, noch schlimmer, mir mitteilen, daß er nicht mehr interessiert sei. Das Ausbleiben all dieser Reaktionen erfuhr ich als die unglaublichste Wohltat und großes Glück.
    Ich

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