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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Ich könnte den spitzen Hebel herausholen und ihn in meinem Ärmel verstecken, und ich könnte ihn in das Arbeitszimmer des Kommandanten schmuggeln, nächstes Mal, denn nach einer Bitte wie dieser gibt es immer ein nächstes Mal, ob du ja oder nein sagst. Ich denke daran, wie ich mich dem Kommandanten nähern könnte, um ihn zu küssen, hier, allein. Ich könnte ihm die Jacke ausziehen, wie um ihn zu mehr zu ermutigen oder aufzufordern, zu einer Annäherung an wahre Liebe, und die Arme um ihn legen, den Hebel aus dem Ärmel gleiten lassen und ihm das spitze Ende plötzlich zwischen die Rippen bohren. Ich denke an das Blut, das aus ihm herausfließt, heiß wie Suppe, sexuell, über meine Hände.
    In Wirklichkeit denke ich nichts dergleichen. Ich lege es erst nachträglich hinein. Vielleicht hätte ich in dem Augenblick all das denken sollen, aber ich habe es nicht getan. Wie gesagt, dies ist eine Rekonstruktion.
    »Also gut«, sage ich. Und ich gehe auf ihn zu und lege meine Lippen geschlossen auf seine. Ich rieche das Rasierwasser, die übliche Marke, den Hauch von Mottenkugeln, der mir so vertraut ist. Aber der Kommandant ist wie jemand, den ich gerade erst kennengelernt habe.
    Er weicht zurück, schaut auf mich herunter. Da ist das Lächeln wieder, das befangene. Diese Aufrichtigkeit! »Nicht so«, sagt er. »So, als wenn es von Herzen käme.«
    Er war so traurig.
    Auch dies ist eine Rekonstruktion.
     

IX
Nacht

Kapitel vierundzwanzig
    Ich gehe zurück, durch die verdunkelte Diele, die gedämpfte Treppe hinauf, und schleiche mich in mein Zimmer. Dort setze ich mich auf den Stuhl, ohne das Licht anzumachen, in meinem roten Kleid, zugehakt und zugeknöpft. Man kann nur angezogen klar denken.
    Ich brauche eine Perspektive. Die Illusion der Tiefe, geschaffen durch einen Rahmen, durch die Anordnung von Formen auf einer ebenen Oberfläche. Perspektive ist notwendig. Sonst gibt es nur zwei Dimensionen. Sonst lebst du, das Gesicht an eine Mauer gedrückt, und alles ist riesiger Vordergrund: Details, Nahaufnahmen, Haare, das Webmuster des Lakens, die Moleküle des Gesichts. Deine eigene Haut wie eine Landkarte, ein Diagramm der Vergeblichkeit, gefurcht von winzigen Straßen, die nirgendwo hinführen. Sonst lebst du im Augenblick. Und gerade dort möchte ich nicht sein.
    Aber genau dort bin ich, und es gibt kein Entrinnen. Die Zeit ist eine Falle, ich bin darin gefangen. Ich muß meinen heimlichen Namen und alle Wege zurück vergessen. Ich heiße jetzt Desfred, und hier, hier und jetzt, lebe ich.
    Lebt in der Gegenwart, macht das Beste daraus, es ist alles, was ihr habt.
    Zeit, Bestandsaufnahme zu machen.
    Ich bin dreiunddreißig Jahre alt. Ich habe braunes Haar. Ich bin eins-siebzig groß, ohne Schuhe. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wie ich früher ausgesehen habe. Ich habe funktionstüchtige Eierstöcke. Ich habe noch eine Chance.
    Aber etwas hat sich geändert, jetzt, heute abend. Die Umstände haben sich geändert.
    Ich kann etwas fordern. Vielleicht nicht viel, aber etwas.
    Männer sind Sexmaschinen, sagte Tante Lydia, und nicht viel mehr. Sie wollen nur das eine. Ihr müßt lernen, sie zu manipulieren, zu eurem eigenen Vorteil. Führt sie an der Nase herum; das ist eine Metapher. Es ist die naturgegebene Möglichkeit. Es ist Gottes Trick. So ist es nun einmal.
    Tante Lydia hat das nicht wortwörtlich gesagt, aber es schwang unausgesprochen mit in allem, was sie sagte. Es schwebte über ihrem Haupt, wie die goldenen Worte über den Heiligen aus den noch dunkleren Zeiten des Mittelalters. Und wie die Heiligen war auch sie eckig und fleischlos.
    Aber wie paßt der Kommandant in dieses Bild, so wie er in seinem Arbeitszimmer existiert, mit seinen Wortspielen und seinen Sehnsüchten – wonach? Daß man mit ihm spielt, ihn zärtlich küßt, als käme es von Herzen.
    Ich weiß, ich muß es ernst nehmen, sein Verlangen. Es könnte wichtig sein, es könnte ein Paß sein, es könnte mein Sturz sein. Ich muß mich ernsthaft damit auseinandersetzen, ich muß darüber nachdenken. Aber einerlei, was ich tue, wie ich hier so im Dunkeln sitze, während das Flutlicht von draußen das Rechteck meines Fensters erhellt, durch die Gardinen, die hauchdünn wie ein Brautkleid, wie Ektoplasma sind, die eine Hand in der anderen, ein wenig hin und her schaukelnd, einerlei, was ich tue, es ist etwas Komisches daran.
    Er wollte, daß ich mit ihm Scrabble spielte und ihn küßte, als käme es von Herzen.
    Dies ist so ungefähr

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