Der Report der Magd
das Absonderlichste, was mir jemals zugestoßen ist.
Der Zusammenhang ist alles.
Ich erinnere mich an eine Fernsehsendung, die ich einmal gesehen habe, eine Wiederholung eines Films, der Jahre vorher gedreht worden war. Ich muß sieben oder acht gewesen sein, zu jung, um ihn zu verstehen. Es war die Art Sendung, die meine Mutter gern sah: historisch, erzieherisch. Hinterher versuchte sie mir den Film zu erklären, mir klarzumachen, daß alles, was darin gezeigt wurde, wirklich geschehen war, aber für mich war es nur eine Geschichte. Ich dachte, jemand hätte sich das alles ausgedacht. Wahrscheinlich denken das alle Kinder über alle historischen Ereignisse vor ihrer eigenen Geschichte. Wenn es nur ein Märchen ist, verliert es etwas von seinem Schrecken.
Es war ein Dokumentarfilm über einen jener Kriege. Menschen wurden befragt, Ausschnitte aus alten Filmen wurden gezeigt, schwarz-weiß, und einzelne Fotos. Ich kann mich nicht mehr an viele Einzelheiten erinnern, aber ich erinnere mich an die Qualität der Bilder, daran, wie alles mit einer Mischung aus Sonnenlicht und Staub bedeckt schien, und daran, wie dunkel die Schatten unter den Augenbrauen und um die Wangenknochen der Menschen waren.
Die Gespräche mit den Menschen, die noch lebten, waren in Farbe. Das, woran ich mich am besten erinnere, war ein Gespräch mit einer Frau, die die Geliebte eines der Aufseher in einem der Lager gewesen war, in die sie die Juden brachten, ehe sie sie töteten. In Ofen, sagte meine Mutter; aber es wurden keine Bilder von den Öfen gezeigt, deshalb setzte sich in mir die undeutliche Vorstellung fest, daß diese Tötungen in Küchen stattgefunden hatten. Für ein Kind hat eine solche Vorstellung etwas besonders Erschreckendes. Öfen waren für mich Backöfen, und das Backen geht dem Essen voraus. Ich glaubte also, diese Menschen seien gegessen worden. Was in gewisser Weise ja wohl auch stimmte.
Aus den Gesprächen ging hervor, daß der Mann grausam und brutal gewesen war. Die Geliebte – meine Mutter erklärte mir das Wort Geliebte, sie hielt nichts von Verschleierungstaktiken, und ich besaß schon mit vier Jahren ein Aufklappbilderbuch über die Geschlechtsorgane – die Geliebte war früher einmal sehr schön gewesen. Ein Schwarzweiß-Foto von ihr und einer anderen Frau wurde gezeigt: beide in zweiteiligen Badeanzügen und mit Plateausohlenschuhen und den breitkrempigen Hüten der damaligen Zeit, sie hatten Schmetterlingssonnenbrillen auf und saßen in Liegestühlen an einem Schwimmbecken. Das Schwimmbecken befand sich neben dem Haus, in dem sie wohnten – ganz in der Nähe des Lagers mit den Öfen. Die Frau sagte, sie hätte nichts bemerkt, was ihr ungewöhnlich vorgekommen sei. Sie behauptete, nichts von den Öfen gewußt zu haben.
Zur Zeit des Gesprächs, vierzig oder fünfzig Jahre später, litt die Frau an einem unheilbaren Emphysem. Sie hustete viel und war sehr dünn, fast ausgemergelt, aber sie war immer noch stolz auf ihre äußere Erscheinung. (Sieh dir das an, sagte meine Mutter halb vorwurfsvoll, halb bewundernd: Sie ist immer noch stolz auf ihre äußere Erscheinung.) Sie war sorgfältig zurechtgemacht, mit viel Tusche auf den Wimpern und Rouge auf den Wangenknochen, über denen sich die Haut dehnte wie ein straff gezogener Gummihandschuh. Sie trug Perlen.
Er war kein Unmensch, sagte sie. Die Leute sagen, er war ein Unmensch, aber das war er nicht.
Was für Gedanken konnte sie sich gemacht haben? Nicht viele, nehme ich an, nicht damals, nicht zu der Zeit. Sie machte sich Gedanken darüber, wie man sich keine Gedanken macht. Die Zeiten waren ungewöhnlich. Sie war stolz auf ihre äußere Erscheinung. Sie glaubte nicht, daß er ein Unmensch war. Er war kein Unmensch, nicht in ihren Augen. Wahrscheinlich hatte er irgend einen liebenswerten Zug gehabt: vielleicht pfiff er unter der Dusche, falsche Töne, vielleicht hatte er eine Schwäche für Trüffel, vielleicht nannte er seinen Hund Liebchen und ließ ihn Männchen machen und um kleine Stücke rohen Steaks betteln. Wie leicht es ist, irgendeiner beliebigen Person einen menschlichen Zug anzudichten. Welche wohlfeile Versuchung. Ein großes Kind, hatte sie wahrscheinlich bei sich gesagt. Und dann schmolz ihr Herz, sie strich ihm das Haar aus der Stirn, küßte ihn aufs Ohr, und das nicht nur, um irgend etwas von ihm zu erschmeicheln. Es war der Drang, zu beschwichtigen, zu trösten. Ist ja schon gut, sagte sie dann, als erwachte er aus einem
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