Der Report der Magd
dem hölzernen Schild: ein lächelnder Fisch mit Augenwimpern. Brote werden dort allerdings nicht verkauft. Die meisten Haushalte backen ihr Brot selbst, obwohl man bei Täglich Brot auch vertrocknete Brötchen und altbackene Doughnuts kaufen kann, wenn man nicht mehr genug hat. Brote und Fische ist nur selten geöffnet. Warum sich die Mühe machen, zu öffnen, wenn es nichts zu verkaufen gibt? Die Hochseefischerei ist vor mehreren Jahren eingestellt worden; die wenigen Fische, die es jetzt gibt, kommen aus Fischzuchten und schmecken schlammig. In den Nachrichten heißt es, daß die Küstengebiete sich »erholen« müssen. An Seezunge erinnere ich mich, und an Schellfisch, an Schwertfisch, Kammuscheln, Thunfisch, an Hummer, gefüllt und gebacken, an Lachs, rosa und fett, in Steaks gegrillt. Konnten alle diese Fische ausgestorben sein, wie die Wale? Ich habe dieses Gerücht gehört, es wurde mir in lautlosen Worten weitergegeben, von Lippen, die sich kaum bewegten, während wir draußen in der Schlange standen und darauf warteten, daß der Laden öffnete, angelockt von dem Bild der saftigen weißen Filets im Fenster. Sie stellen das Bild ins Fenster, wenn sie etwas anzubieten haben, und nehmen es heraus, wenn es nichts gibt. Zeichensprache.
Desglen und ich gehen heute langsam; uns ist heiß in unseren langen Kleidern, wir sind naß unter den Armen, müde. Jedenfalls tragen wir bei dieser Hitze keine Handschuhe. Früher war hier ein Eisladen, irgendwo in dieser Häuserzeile. Ich kann mich nicht an den Namen erinnern. Alles ändert sich so schnell, Gebäude werden abgerissen oder vollständig umgebaut, da ist es schwer, sie so im Kopf zu behalten, wie sie einmal waren. In dem Eisladen bekam man Doppelkugeln, und wenn man wollte, streuten sie Schokoladenstreusel darüber. Sie hatten den Namen eines Mannes. Hießen sie Johnnies? Oder Jackies? Ich kann mich nicht mehr erinnern.
Wir gingen dort immer hin, als sie klein war, und ich hielt sie hoch, damit sie durch die Glasscheibe der Theke schauen konnte, wo die Behälter mit dem Eis ausgestellt waren, so zart gefärbt, blaßorange, blaßgrün, blaßrosa, und dann las ich ihr die Namen vor, damit sie sich aussuchen konnte. Sie suchte aber nicht nach dem Namen aus, sondern nach der Farbe. Ihre Kleider und Latzhosen waren auch in diesen Farben. Eiscreme-Pastelltöne.
Jimmies, so hießen sie.
Desglen und ich fühlen uns jetzt wohler miteinander, wir haben uns aneinander gewöhnt. Siamesische Zwillinge. Wir halten uns nicht mehr lange bei den Formalitäten auf, wenn wir uns begrüßen; wir lächeln und setzen uns in Bewegung, hintereinander, durchziehen ruhig unsere tägliche Bahn. Hin und wieder verändern wir die Route, nichts spricht dagegen, solange wir innerhalb der Sperren bleiben. Einer Ratte in einem Irrgarten steht es frei, überall hinzulaufen, solange sie innerhalb des Irrgartens bleibt.
Wir sind schon in den Geschäften gewesen und bei der Kirche; jetzt sind wir an der Mauer. Heute ist nichts daran, sie lassen die Leichen im Sommer nicht so lange hängen wie im Winter, wegen der Fliegen und wegen des Geruchs. Unser Land war einst das Land der Duftsprays, Fichtennadel und Blütenduft, und die Leute haben sich den Geschmack dafür bewahrt; besonders die Kommandanten, die Reinheit in allen Dingen predigen.
»Hast du alles von deiner Liste?« fragt mich Desglen, obwohl sie genau weiß, daß ich alles habe. Unsere Listen sind nie lang. Sie hat in letzter Zeit etwas von ihrer Passivität, etwas von ihrer Melancholie abgestreift. Oft spricht sie als erste.
»Ja«, sage ich.
»Laß uns dort herum gehen«, sagt sie. Sie meint nach unten, auf den Fluß zu. Wir sind eine ganze Weile lang nicht in diese Richtung gegangen.
»Schön«, sage ich. Ich wende mich jedoch nicht sofort um, sondern bleibe stehen, wo ich bin, und werfe einen letzten Blick auf die Mauer. Da sind die roten Ziegelsteine, da sind die Scheinwerfer, da ist der Stacheldraht, da sind die Haken. Irgendwie ist die Mauer noch bedrohlicher, wenn sie leer ist, so wie heute. Wenn dort jemand hängt, weiß man wenigstens das Schlimmste. Aber leer ist sie auch eine Möglichkeit, wie ein heranziehender Sturm. Wenn ich die Leichen sehe, die wirklichen Leichen, wenn ich an Größe und Gestalt erkenne, daß Luke nicht darunter ist, dann kann ich auch glauben, daß er noch am Leben ist.
Ich weiß nicht, warum ich erwarte, daß er an dieser Mauer erscheint. Es gibt Hunderte von anderen Stellen, wo sie ihn hätten
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