Der Report der Magd
zurück in den Bereich des Ungesagten. Jetzt verändere ich die Einstellung meines Blicks und sehe nicht mehr die Maschinen, sondern Desglen, wie sie vom Glas des Schaufensters gespiegelt wird. Sie sieht mich direkt an.
Wir können einander in die Augen sehen. Es ist das erstemal, daß ich Desglens Augen sehe, direkt und stetig, nicht schräg von der Seite. Ihr Gesicht ist oval, rosa, füllig, aber nicht dick, ihre Augen sind rund.
Sie hält meinem Blick in der Scheibe stand, gleichmäßig, unbewegt. Jetzt ist es schwer, wegzusehen. Es ist ein Schock, sich so zu sehen; es ist, wie wenn man jemanden zum erstenmal nackt sieht. Gefahr hängt plötzlich in der Luft zwischen uns, wo vorher keine gewesen ist. Sogar die Begegnung unserer Augen bedeutet Gefahr. Obwohl niemand in der Nähe ist.
Schließlich spricht Desglen. »Glaubst du, daß Gott diesen Maschinen zuhört?« fragt sie. Sie flüstert, wie wir es im Zentrum gewohnt waren.
In der Vergangenheit wäre dies eine ziemlich banale Bemerkung gewesen, eine Art gelehrter Spekulation. Jetzt ist es Verrat.
Ich könnte schreien. Ich könnte davonlaufen. Ich könnte mich schweigend von ihr abwenden, um ihr zu zeigen, daß ich eine solche Bemerkung in meiner Gegenwart nicht dulde. Subversion, Aufwiegelung, Blasphemie, Ketzerei, alles zusammen.
Ich nehme mich zusammen. »Nein«, sage ich.
Sie atmet aus, ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Wir haben gemeinsam die unsichtbare Linie überschritten. »Ich auch nicht«, sagt sie.
»Obwohl ich annehme, daß es eine Art Glauben ist«, sage ich. »Wie die tibetanischen Gebetsmühlen.«
»Was ist das?« fragt sie.
»Ich habe nur darüber gelesen«, sage ich. »Sie wurden vom Wind bewegt. Sie sind inzwischen abgeschafft worden.«
»Wie alles«, sagt sie. Erst jetzt hören wir auf, einander anzusehen.
»Sind wir hier sicher?« flüstere ich.
»Ich nehme an, es ist der sicherste Platz«, sagt sie. »Wir sehen aus, als würden wir beten, weiter nichts.«
»Und was ist mit ihnen?«
»Ihnen?« fragt sie, immer noch flüsternd. »Man ist draußen immer am sichersten. Keine Wanzen. Und warum sollten sie hier auch welche anbringen. Bestimmt denken sie, kein Mensch würde es wagen. Aber wir haben lange genug hier gestanden. Es hat keinen Sinn, daß wir zu spät nach Hause kommen.« Wir wenden uns gemeinsam ab.
»Halt den Kopf beim Gehen gesenkt«, sagt sie, »und dreh dich ein bißchen zu mir her. Dann kann ich dich besser verstehen. Sag nichts, wenn jemand kommt.«
Wir gehen, die Köpfe gesenkt, wie gewöhnlich. Ich bin so aufgeregt, daß ich kaum atmen kann, aber ich gehe mit gleichmäßigen Schritten. Jetzt muß ich es mehr denn je vermeiden, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
»Ich dachte, du wärst eine wahre Gläubige«, sagt Desglen.
»Das habe ich von dir auch gedacht«, sage ich.
»Du warst immer so stinkfromm.«
»Du aber auch«, erwidere ich. Und am liebsten würde ich lachen, schreien, sie umarmen.
»Du kannst dich uns anschließen«, sagt sie.
»Uns?« frage ich. Dann gibt es also ein uns, dann gibt es ein wir. Ich wußte es.
»Du hast doch nicht etwa gedacht, daß ich die einzige sei«, sagt sie.
Das habe ich nicht gedacht. Mir geht durch den Kopf, daß sie eine Spionin sein könnte, ein Spitzel, eingesetzt, um mich in die Falle zu locken – das ist der Boden, auf dem wir wachsen. Aber ich kann es nicht glauben. Hoffnung steigt in mir auf wie Saft in einem Baum. Blut in einer Wunde. Wir haben eine Bresche geschlagen.
Ich würde sie gern fragen, ob sie Moira gesehen hat, ob jemand herausfinden kann, was aus Luke geworden ist, aus meinem Kind, auch aus meiner Mutter, aber jetzt ist nicht mehr viel Zeit. Zu schnell nähern wir uns der Ecke der Hauptstraße, der vor der ersten Straßensperre. Dort werden zu viele Leute sein.
»Sag kein Wort«, warnt mich Desglen, auch wenn es nicht nötig gewesen wäre. »Über nichts.«
»Natürlich nicht«, sage ich. Wem könnte ich es auch erzählen?
Wir gehen die Hauptstraße entlang, schweigend, an Lilien vorbei, an Alles Fleisch vorbei. Heute nachmittag sind mehr Menschen auf den Bürgersteigen als gewöhnlich: das warme Wetter muß sie herausgelockt haben. Frauen in Grün, Blau, Rot, in Streifen. Auch Männer, manche in Uniform, manche nur in Zivil. Die Sonne ist gratis, sie darf noch genossen werden. Wenn auch keiner mehr darin badet, jedenfalls nicht öffentlich. Es sind auch mehr Autos unterwegs, Whirlwinds mit ihren Chauffeuren und ihren gepolsterten
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