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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Stellvertretungen, auch bei mir, und ich muß zugeben, die Patienten waren begeistert von ihm, außer einigen, die ihn nicht mochten. So führte er ein unruhiges und einsames Leben, bis er endlich auswanderte; er veröffentlichte seltsame Traktate, so eine Schrift über die Berechtigung der Astrologie, die etwas vom Sophistischsten ist, was ich je gelesen habe. Soweit ich informiert bin, hatte niemand zu ihm Zugang, auch wurde er ein zyni-scher, unzuverlässiger Patron, um so unangenehmer, weil sich seinem Witz niemand gewachsen zeigte. Verwundert hat es uns nur, daß er in Chile plötzlich so anders wurde, was für eine nüchterne und wissenschaftliche Arbeit er dort drüben lei-stete; das muß durchaus am Klima liegen oder an der Umgebung. In der Schweiz ist er ja wieder gleich der alte geworden, der er von jeher gewesen ist.«
    Hoffentlich habe er das Traktat über die Astrologie aufbewahrt, sagte Bärlach, als Hungertobel geendet hatte.
    Er könnte es ihm morgen mitbringen, antwortete der Arzt.
    Das sei also die Geschichte, meinte der Kommissär nachdenklich.
    »Du siehst«, sagte Hungertobel, »ich habe vielleicht doch in meinem Leben zuviel geträumt.«
    »Träume lügen nicht«, entgegnete Bärlach.
    »Vor allem die Träume lügen«, sagte Hunger-180
    tobel. »Aber du mußt mich entschuldigen, ich habe zu operieren«, und damit erhob er sich von seinem Stuhl.
    Bärlach reichte ihm die Hand. »Ich will hoffen, keine Coniotomie, oder wie du das nennst.«
    Hungertobel lachte. »Einen Leistenbruch, Hans; der ist mir sympathischer, wenn es auch, offen gestanden, schwerer ist. Doch jetzt mußt du Ruhe haben. Unbedingt. Du hast nichts nötiger als einen zwölfstündigen Schlaf.

    181
    Gulliver
    Doch schon gegen Mitternacht wachte der Alte auf, als vom Fenster her ein leises Geräusch kam und kalte Nachtluft ins Krankenzimmer strömte.
    Der Kommissär machte nicht sofort Licht, sondern überlegte sich, was denn eigentlich vor sich gehe. Endlich erriet er, daß der Rolladen langsam nach oben geschoben wurde. Die Dunkelheit, die ihn umgab, wurde aufgehellt, schemenhaft blähten sich die Vorhänge im Ungewissen Licht, dann hörte er, wie sich der Rolladen wieder vorsichtig nach unten bewegte. Aufs neue umgab ihn die undurchdringliche Finsternis der Mitternacht, doch spürte er, wie sich eine Gestalt vom Fenster her ins Zimmer schob.
    »Endlich«, sagte Bärlach. »Da bist du ja, Gulliver«, und drehte seine Nachttischlampe an.
    Im Zimmer stand in einem alten, fleckigen und zerrissenen Kaftan ein riesenhafter Jude, vom Licht der Lampe rot beschienen.
    Der Alte legte sich wieder in die Kissen zurück, die Hände hinter dem Kopf. »Ich habe mir halb ge-182
    dacht, daß du mich noch diese Nacht besuchen würdest. Daß du dich auch auf die Fassadenkletterei verstehst, konnte ich mir vorstellen«, sagte er.
    »Du bist mein Freund«, erwiderte der Einge-drungene, »so bin ich gekommen.« Sein Kopf war kahl und mächtig, die Hände edel, aber alles mit fürchterlichen Narben bedeckt, die von unmenschlichen Mißhandlungen zeugten, doch hatte nichts vermocht, die Majestät dieses Gesichts und dieses Menschen zu zerstören. Der Riese stand unbeweglich mitten im Zimmer, leicht gebückt, die Hände auf den Schenkeln; geisterhaft lag sein Schatten an der Wand und an den Vorhängen, die wimper-losen, diamantenen Augen blickten mit einer unerschütterlichen Klarheit nach dem Alten.
    »Wie konntest du wissen, daß ich in Bern anwesend zu sein nötig habe?« kam es aus dem zer-schlagenen, fast lippenlosen Mund, in einer um-ständlichen, überängstlichen Ausdrucksweise, wie von einem, der sich in zu vielen Sprachen bewegt und sich nun nicht sofort im Deutschen zurecht-findet; doch war seine Aussprache akzentlos.
    »Gulliver läßt keine Spur zurück«, sagte er dann nach kurzem Schweigen. »Ich arbeite unsichtbar.«
    »Jeder läßt eine Spur zurück«, entgegnete der Kommissär. »Die deine ist die, ich kann es dir ja sagen: Wenn du in Bern bist, läßt Feitelbach, der dich versteckt, wieder einmal im Anzeiger ein Inserat erscheinen, daß er alte Bücher und Marken 183
    verkauft. Dann hat nämlich der Feitelbach etwas Geld, denke ich.«
    Der Jude lachte: »Die große Kunst Kommissar Bärlachs besteht darin, das Einfache zu finden.«
    »Nun kennst du deine Spur«, sagte der Alte. Es gäbe nichts Schlimmeres als einen Kriminalisten, der seine Geheimnisse ausplaudere.
    »Für den Kommissar Bärlach werde ich meine Spur stehen lassen.

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