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Der Rikschamann

Der Rikschamann

Titel: Der Rikschamann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Schroeter
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Glasschränkchen präsentierten ein buntes Sammelsurium antiker Brillengestelle, Pfeifenköpfe und Hosenknöpfe. Bücher- und Zeitungsstapel quollen allerorten aus völlig überlasteten Regalen, und auf dem Wohnzimmertisch entdeckte Max jetzt ein Emaillegefäß, das er bei genauerem Hinsehen als ehemaligen Nachttopf identifizierte. Hoffentlich ehemalig. Er lupfte neugierig den Deckel und stellte fest, dass Straschitz darin ein knappes Dutzend Socken aufbewahrte, von denen kaum einer zum anderen passte. Da durfte man ja gespannt sein, wo wohl die angekündigte Flasche Lagavulin stecken mochte. Max schloss das Gefäß schmunzelnd und widmete sich eingehend der Buchrücken-Lektüre. Falls er dereinst Material für eine Examensarbeit sammeln müsste, könnte er sich die Recherche in der Uni sparen. Straschitz war zum Thema Hamburger Geschichte eindeutig besser sortiert als die Staatsbibliothek.
    »Kaffee?« Elke balancierte ein Tablett mit einer großen Kanne und drei Bechern herein und setzte es neben dem Nachttopf auf dem Tisch ab.
    »Gerne«, bat Max und registrierte amüsiert die verräterische Schokospur an Elkes Mundwinkel. So schlecht kannte Straschitz seine Tochter offenbar doch nicht.
    »Dann nimm dir einen Becher! Tut mir leid, Papa hat nur solchen Mist im Schrank.«
    Max hatte die Wahl zwischen »Royal Wedding 1981 – Charles & Diana«, »Lübecker Weihnachtsmarkt 1993« und einem Becher mit Che-Guevara-Konterfei. Er entschied sich für die Royals.
    »Romantiker?«
    »Hier passt am Meisten rein.«
    Elke schenkte ihm den Becher voll. Max nickte dankbar und wies dann auf den Koffer des Mädchens, der immer noch ungeöffnet in einer Zimmerecke stand.
    »Du bleibst länger?«
    »Ist noch nicht ganz geklärt. Zu meiner Mutter gehe ich jedenfalls nicht zurück. Das gibt Mord und Totschlag!«
    Max verzog das Gesicht. »Davon hatten wir heute schon reichlich.«
    »Hab’ ich gehört. Das arme Mädchen. Und du hast sie gekannt, sagt mein Vater?«
    »Du auch!« fiel es Max plötzlich ein. »Du hast sie doch gesehen!«
    »Wen? Die Leiche?«
    »Als du gestern vorm Hanseviertel in meine Rikscha steigen wolltest, da saß schon jemand drin – erinnerst du dich?«
    »Das war sie? Mein Gott…« Elke stellte ihren Becher ab, sichtlich erschüttert.
    »Das war sie«, bestätigte Max. »Sie hatte wohl die Rikscha verwechselt oder so. Irgendwas hat ihr nicht gepasst, und dann ist sie gegangen.«
    Elke rieb sich nachdenklich das Kinn, wobei sie die Schokospur im Mundwinkel auf doppelte Länge schmierte. »Deine gelbe Rikscha – die sieht doch ganz anders aus als die von deinen Kollegen! Gibt es noch so eine in Hamburg?«
    Max schüttelte den Kopf. »Das wüsste ich.«
    »Dann hat sie nicht die Rikscha verwechselt«, konstatierte Elke energisch, »sondern den Fahrer! Fährt außer dir noch jemand mit dem Ding?«
    »Nur einer.«
    »Sie wollte überhaupt nicht Rikscha fahren.« Elke wirkte jetzt voll konzentriert. »Sie wollte denjenigen treffen, den sie eigentlich als Fahrer der gelben Rikscha kannte – um sich bei ihm für etwas zu bedanken, das hat sie gesagt! Und sich dann bei dir für die Verwechslung entschuldigt, erinnerst du dich?«
    »Ich hab’ nicht so genau hingehört…«
    »Elke vergisst nie, was irgendwer mal irgendwo gesagt hat. Hat sie von ihrer Mutter.« Straschitz stand in der offenen Tür und frottierte sein spärliches Haupthaar mit einem alten T-Shirt. »Wenn sie also Recht hat, was sagt uns das?«
    »Oleg muss ihr Gesicht sofort erkannt haben! Ich konnte das ja auch.« Max atmete tief durch und schloss die Augen. Deshalb war Oleg so plötzlich abgehauen! Vielleicht lag Kommissar Hesse mit seinem Verdacht gar nicht mal so daneben…
    Dunkelheit verschattete den Raum. Pieter Westheim empfand das als angenehm. Nie wieder Licht. Bloß nicht der eigenen Hilflosigkeit ins Auge blicken. Er fühlte sich völlig ausgeliefert. Der große Piet West, gedemütigt von einem unterbelichteten Muskelprotz mit lächerlicher Frisur. Seine Nase schien auf Ballongröße angeschwollen zu sein. Die müsste er auch nicht sehen, bliebe es nur ewig dunkel. Wenigstens blutete sie nicht mehr. Vorsichtig tupfte Pieter mit dem letzten vollgesauten Kleenex an seinen Nasenlöchern herum und schmiss es dann kurzerhand zum verstreuten Haufen der anderen blutigen Papiertücher auf dem Fußboden. Der Papierkorb lag schließlich vollgekotzt im Garten.
    Pieter hing wie erschossen in seinem Schreibtischstuhl. Irgendwann käme Elena rein.

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