Der Rikschamann
kieferklappernde Totenkopf auf. Wann genau hatte er Oleg zuletzt gesprochen? Max tippte sich durchs Menü und rief die Anruflisten auf. Letzter abgehender Anruf gestern, 21.34 Uhr, Max erkannte seine eigene Handynummer. Das war der Alarmanruf aus dem Hirschpark gewesen. Er scrollte auf die Liste eingegangener Anrufe. Oleg hatte gestern nach seinem Verschwinden am Nikolaifleet jeden Versuch seines Freundes oder der Polizei, ihn telefonisch zu erreichen, abgeblockt. Die Mobilbox musste zum Bersten voll sein mit Max’ Appellen, Oleg möge gefälligst rangehen – und mit dezenten Rückrufbitten der Polizei. Max ersparte sich das Abhören dieser Texte. Trotzdem gab es auf der Liste einen Anruf, den Oleg eben doch angenommen hatte. Um 20.42 Uhr, gut eine Dreiviertelstunde vor dem Hirschpark-Desaster. Max erinnerte sich, dass um diese Zeit herum Olegs Mobilanschluss plötzlich auf Sendung, aber besetzt gewesen war – und gleich danach wieder ausgeschaltet. Ohne das Handy vom Ladekabel zu trennen, rief Max den geheimnisvollen Anrufer zurück.
»Ja?« meldete sich eine helle, schneidende Stimme.
»Guten Tag, mit wem spreche ich bitte?«
»Worum geht’s?« kam es unwirsch zurück.
»Es geht um einen Freund von mir, den Sie gestern Abend angerufen haben, so um zwanzig vor Neun….«
»Das war falsch verbunden. Sorry. Und tschüß.«
Das klang faul. Aber momentan musste Max es dabei belassen. Er notierte sich die Telefonnummer für alle Fälle und scrollte der Vollständigkeit halber auch noch auf das SMS-Verzeichnis. Ein Name auf der Eingangsliste sprang ihm sofort ins Auge: Nastja. Eingegangen gestern, 2.17 Uhr. Da war sie doch schon tot, schoss es Max durch den Sinn, aber dann begriff er, dass Nastja ihre Botschaft nicht gestern Nachmittag, sondern in der Nacht zuvor, in den frühesten Morgenstunden des Samstags, auf den Weg gebracht haben musste. Er öffnete die SMS:
»Goldener Westen! Gelandet, :* N.«
Max legte das Handy sachte zurück auf den Shorts-Stapel, als würde eine härtere Behandlung Geister wecken. Er dachte an das hübsche, dunkeläugige Mädchen mit ihrem Taigalillicharme. Und an Oleg, wie er Nastjas Leichenkopf aus dem Sack auf die Holzbrücke purzeln sah. Danach war Oleg auf die Rikscha gesprungen, wie von Dämonen gehetzt weggefahren.
Um am späten Nachmittag wahrscheinlich am Falkenstein bei der Villa von Pete West aufzukreuzen.
Pete West. Goldener Westen. Goldene Sportfelgen. Und ein blutgetränktes Stück Stoff.
Der Totenkopf auf Olegs Handy klapperte noch einmal mit dem Knochenkiefer, dann erlosch das Display. Zeit für einen Hausbesuch, entschied Max grimmig.
13.
Alles schwarz. Es gab keinen Lichtschein durch Fensterritzen, keine Dämmerung, geschweige denn einen Sonnenaufgang. Keine Orientierung, abgesehen von dem Blecheimer, der ungefähr die Richtung zur Tür markierte und an den Oleg nur heranreichte, wenn er den Spielraum der Fußkette voll ausnutzte, sich lang auf den Boden legte und den Arm danach ausstreckte. Er hätte den Eimer natürlich auch etwas näher zu sich heranziehen können, aber es stank schon sehr aus dem Blechkübel. Zu glauben, der Gestank ließe sich dadurch reduzieren, indem er den Eimer um ein paar Zentimeter weiter von sich fernhielt, war pure Illusion – aber mehr als Illusion blieb ihm in dieser Lage nicht. Jedes Zeitgefühl ging in dieser ewigen Finsternis verloren. Vielleicht hätte er die Male zählen sollen, die er den Kübel schon hatte benutzen müssen. In welcher Frequenz pinkelt und scheißt ein Mensch, wenn man ihn mit drei Schokoriegeln und einer Anderthalb-Liter-Plastikflasche Mineralwasser füttert? Wäre mal eine schöne Textaufgabe für die weltfernen Eierköpfe an der Uni.
Der Mann mit dem Entenhausen-Organ war nicht wiedergekommen. Jedenfalls hatte niemand mehr gesprochen, als sich noch ein einziges Mal die Tür geöffnet hatte, der Schweinwerfer aufflammte und mittels eines Besenstils der Eimer auf Oleg zugeschoben wurde, in dem er dann die Schokoriegel und das Wasser fand. Er hatte alle Riegel sofort gegessen und die Flasche war auch schnell leer gewesen. Max hätte sich garantiert alles eingeteilt und noch mindestens zwei Riegel übrig, dachte Oleg. So war Max. Oleg lebte eher nach der Devise: Was man hat, hat man. Kann einem niemand mehr wegnehmen. Es machte keinen Sinn, Dinge anzuhäufen, von denen man auch gleich etwas haben kann. So was taten nur Opfer, und Oleg sah sich grundsätzlich nicht als Opfer. Nur jetzt lag er hier auf Eis.
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