Der Riss
– er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Die Leute von Bixby verdienten es nicht, dass sie abgeschlachtet wurden, nur weil die Welt überbevölkert war. Niemand verdiente das.
Er lauschte den Alarmanlagen und zwang sich zu hoffen, dass hier unten jeder darauf hörte.
Kurz bevor die Midnight eintraf, grollte ein Donnerschlag direkt über ihren Köpfen. Und dann erzitterte die Erde, die blaue Zeit fiel auf alles herab, ließ den Regen um sie herum zu Millionen schwebender Diamanten erstarren, schaltete den Donner ab, die Sirenen, alles.
„Kannst du’s von hier aus sehen?“, fragte Dess.
Rex sah in Richtung Jenks und entdeckte mit seinem Seherblick den flachen roten Schimmer des Risses.
„Ja. Die rote Zeit ist unterwegs.“
„Gute Arbeit mit der Zündschnur.“ Dess atmete erleichtert auf. „Schätze, wir lehnen uns einfach zurück, bis das Feuerwerk losgeht.“
Geplant war, dass die anderen drei Midnighter draußen in Jenks sein sollten. Bald würden sie die ersten Raketen zünden, um den Hauptstrom der Darklinge aufzuhalten. Sobald es da anständig brannte und bevor die Darklinge um sie herum und in die Stadt zu strömen begannen, würden Jonathan, Jessica und Melissa hierherfliegen, um zu fünft Stellung zu beziehen.
Das war jedenfalls der Plan.
„Mann, Rex! Sieh dir das an!“
Dess deutete in Richtung Innenstadt. Rex drehte sich um und folgte ihrem Blick auf das Mobil-Gebäude, das höchste in Bixby. Das geflügelte Neonpferd auf der Spitze kauerte direkt unter einer tiefen Wolkendecke, vor der dunklen Masse seltsam angeleuchtet.
Rex’ Herz begann zu klopfen. „Oh mein Gott.“
„Hast du so was schon mal gesehen?“
„Nein, hätte ich aber immer gern. Melissa und ich haben nach so was Ausschau gehalten, seit … einer Ewigkeit.“
Aus der Wolke führte ein erstarrter Blitzstrahl, der sich in unzählige Feuerzinken teilte, mit denen er den Metallrahmen des Neonpferdes umfasste. In Rex’ Midnightervision war der erstarrte Blitz überwältigend komplex, jeder Zentimeter teilte sich in Millionen brennende Zacken.
Er erinnerte sich, wie oft Melissa und er als Kinder mit ihren Fahrrädern Tunnel durch den erstarrten Regen gegraben hatten, um einen erstarrten Lichtstrahl am Horizont zu erreichen. Sie hatten es nie geschafft, bevor die geheime Stunde vorüber war. Stets mussten sie sich mit leeren Händen durch das Gewitter zurückkämpfen.
Sie hatten es aber immer weiter versucht. Eines der ersten Fragmente der Lehre, das Rex entdeckt hatte, handelte von erstarrten Blitzen, obwohl darin nie erklärt wurde, was man tun sollte, wenn man sie fand.
Da war aber noch etwas in seiner Erinnerung …
Er spürte den Furchen nach, die Madeleine hinterlassen hatte. Die nach wie vor heiklen Wunden begannen zu pochen.
Jetzt sah er es, was ihm beim Anblick des komplexen erstarrten Blitzes wie ein Schlag getroffen hatte. Hier war sie, die letzte Spur dessen, was die Darklinge vor ihm verborgen hatten.
Rex blinzelte. „Oh nein.“
„Was ist?“
Er konnte nicht antworten, ein Schauder fuhr durch seinen Körper. Plötzlich wusste er, worum es heute Nacht wirklich ging und was passieren musste, bevor der Riss die Innenstadt erreichen und den Blitz wieder freisetzen würde. Er kannte die Instruktionen, die die Grayfoots nicht erreicht hatten, bevor ihr Halbling gestorben war.
Und endlich kannte er den wahren Grund, warum die Darklinge Jessica so sehr fürchteten – warum sie ihr stets den Tod gewünscht hatten.
Er blickte hinaus in Richtung Jenks. Der rot glühende Riss bewegte sich immer noch auf sie zu. „Wir können das hier aufhalten.“
„Was meinst du damit, Rex?“
„Wir brauchen Jessica hier.“
„Wir haben aber doch noch gar nicht angefangen, die … “
„Psst.“ Rex ging in die Hocke und legte den Kopf in beide Hände. Bei seiner Planung für heute hatte er Melissa aus zwei Gründen an vorderster Front eingesetzt. Sie konnte Jessica und Jonathan sicher dort hinaus und wieder zurück leiten, durch Bullen und Darklinginvasionen, je nach Bedarf. Und Rex hatte außerdem gewusst, dass sie sich seine Gedanken in der geheimen Stunde meilenweit schmecken konnte, falls etwas schiefging, genau wie damals, als sie sich mit acht Jahren in ihrem Schlafanzug mit den Cowgirls den Weg zu ihm gesucht hatte.
Jetzt musste sie ihn ein weiteres Mal hören.
„Rex?“, fragte Dess leise.
Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr zu schweigen und konzentrierte sich, um mit all seiner Willenskraft seine
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