Der Rote Krieger: Roman (German Edition)
erstaunt. Sie machte einen Knicks vor Prudentia. »Gütiger, lebendiger Gott, Mylord – lebt sie?«
»Sie lebt in meiner Erinnerung«, sagte er mit einer gewissen Heuchelei. Einige seiner Geheimnisse waren so schlimm, dass er sie nicht teilen konnte.
Sie wirbelte herum. »Das ist ja großartig! Wie viele Sigille besitzt Ihr?«
»Sigille?«, fragte er.
»Zeichen. Wirkungsmächtige Werkzeuge. Phantasmata.«
Er zuckte die Schultern. »Mehr als zwanzig«, sagte er. Es war keine Lüge, sondern nur eine Aufforderung, ihn zu unterschätzen.
Sie kicherte. Hier war sie größer, und ihr Gesicht wirkte elfengleicher und wilder. Ihre Augen glühten wie die einer Katze in der Nacht und machten einen leicht mandelförmigen Eindruck. »Ich wusste um Euch, als ich Euch zum ersten Mal gesehen habe«, sagte sie. »Ihr tragt die Macht wie einen Mantel. Die Macht der Wildnis.«
Er lächelte. »Wir sind uns sehr ähnlich«, sagte er.
Sie hatte seine Hand ergriffen und hielt sie gegen ihre rechte Brust – doch hier war es nicht wie in der Welt. Seine Hand fand ihre Brust nicht. Stattdessen fand er sich selbst auf einer Brücke stehend wieder. Unter ihm rauschte ein Bergbach dahin, murmelte in dunklem, klarem Braun, war voller Blätter. Die Bäume zu beiden Seiten des Ufers waren von üppigem, sattem Grün und reichten bis in den Himmel. Und nun trug sie statt der grauen Kutte ihres Ordens ein grünes Kleid und einen grünen Gürtel.
»Meine Brücke schwebt in der Gefahr, von der Frühlingsflut davongeschwemmt zu werden«, sagte sie. »Aber Euer Turm ist zu beengend.«
Er beobachtete die Macht, die unter der Brücke dahinfloss, und hatte plötzlich ein wenig Angst vor ihr. »Du kannst das alles wirken?«
Sie lächelte. »Ich lerne. Ich ermüde aber schnell und habe nicht Eure zwanzig Sigille zur Verfügung.«
Er erwiderte ihr Lächeln. »Falls mich Prudentia nicht falsch unterrichtet hat, sind wir nun miteinander verbunden, da wir jeweils die Orte des anderen aufgesucht haben.«
»Solange Eure gepanzerte Tür verschlossen ist, kann ich Euch nicht einmal finden«, sagte sie und schenkte ihm einen schelmischen Blick. »Ich habe es versucht.«
Er streckte die Hände nach ihr aus.
Als sie sich um ihre Schultern schlossen, ließ ihre Konzentration nach, oder es war seine eigene, und sie saßen auf der Bank in der Finsternis, die von Apfelduft durchwoben war.
Und küssten sich.
Sie legte den Kopf an seinen Brustpanzer, da öffnete er den Mund.
»Sag bitte nichts«, meinte sie. »Ich will jetzt nicht sprechen.«
Also saß er vollkommen glücklich und schweigend in der Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bevor er bemerkte, dass sie seine Prellungen weggezaubert hatte. Inzwischen war sie eingeschlafen.
Später musste er sich erleichtern. Die Steinbank war trotz der warmen Frühlingsluft eiskalt. Und die Kante der Bank schnitt ihm in den Oberschenkel. Allmählich wurde der Blutfluss in den Beinen unterbrochen, und er fühlte sich, als säße er auf Nadeln.
Dann fragte er sich, ob es seine Pflicht war, sie zu wecken und zu Bett zu schicken. Oder ob er sie aufwecken und mit Küssen angreifen sollte. Doch ihm kam der Gedanke, dass eine ganze Nacht ohne Schlaf nicht gut für ihn war.
Später bemerkte er, dass ihre Augen offen standen.
Sie wand sich von seinem Schoß. Er dachte über ein Dutzend Bemerkungen nach, die allesamt zum Gegenstand hatten, dass sie wärmer war als ihr sanfter Jesus, aber er verwarf sie alle wieder.
Schließlich war er erwachsen.
Er küsste ihre Hand.
Sie lächelte. »Du gibst dich viel schlimmer, als du eigentlich bist«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln.
Sie griff in ihren Ärmel und legte etwas in seine Hand. Ein kleines Taschentuch aus Leinen.
»Mein Gelübde der Armut ist nicht viel wert, weil ich nichts besitze«, sagte sie. »Ich habe der Zofe geholfen, den Schmerz in ihren Gliedern zu lindern, und dafür hat sie mir das hier geschenkt. Aber ich habe hineingeweint. Zweimal.« Sie lächelte. »Ich glaube, das macht es zu meinem Eigentum.«
Er drückte es an sein Herz, schob es unter den Waffenrock und küsste dann ihre Hand.
»Was willst du?«, fragte sie.
»Dich«, sagte er.
Sie lächelte. »Eine dumme Antwort. Was willst du vom Leben haben?«
»Sag du es zuerst«, gab er zurück.
Ihr Lächeln wurde tiefer. »Das ist ganz einfach. Ich will, dass die Menschen glücklich sind. Dass sie in Freiheit leben. Und dass es ihnen gut geht. Dass sie genug zu essen haben und bei guter Gesundheit
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