Der Rote Mond Von Kaikoura
liefen und in die Karbollösung tropften.
»Samantha ist tot?«
Rosie nickte und zog die Nase hoch. »Sie haben sie noch nicht gefunden, aber die Männer meinten, dass aus dem Trümmerhaufen niemand lebend rauskommen würde.«
Lillian war wie vor den Kopf geschlagen. Samantha nun auch. Es tat ihr leid, dass sie nicht mehr Zeit mit ihr verbracht, sie nicht näher kennengelernt hatte.
Gleichzeitig überkam sie große Sorge um Henare. Wo war er jetzt? Ging es ihm gut? Da Rosie jetzt in Tränen ausbrach, strich sie ihr beruhigend über den Rücken und zog sie schließlich in ihre Arme. Obwohl ihr Innerstes von neuem Schmerz brannte, hatte sie keine Tränen mehr. Sie würden wiederkommen, später, wenn sie Zeit hatte, der Toten in Ruhe zu gedenken.
Lillian saß neben dem Bett eines Mannes, der sich beide Beine gebrochen hatte, und da der Patient schlief, schloss sie ebenfalls ein wenig die Augen. Obwohl sie nicht schlief, fuhr sie erschrocken zusammen, als sie plötzlich Henare neben sich gewahrte.
»Henare!«, flüsterte sie, und ein verhaltenes Lächeln trat auf ihr Gesicht. Sie freute sich, ihn endlich wiederzusehen. »Du bist wieder zurück.«
»Wie ich sehe, hast du dein Versprechen tatsächlich wahr gemacht.«
»Ich stehe zu meinem Wort, wie mein Großvater.« Lillian seufzte leise, als sie die Trauer wieder überkam. »Rosie arbeitet auch hier. Sie hat mir von Samantha erzählt.«
»Die kleine Carson …« So, wie sich Henares Blick verfinsterte, schien er Bescheid zu wissen. »Man hat sie und ihre Mutter gefunden«, setzte er behutsam hinzu.
Lillian nickte nur.
»Die Beerdigungen sollen morgen beginnen. Du solltest mit dem Totengräber sprechen.«
Wieder nickte Lillian nur, doch dann erhob sie sich und schlang sanft die Arme um seine Schultern.
»Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, dass du bei mir bist. Bitte versprich mir, dass du mich nie allein lässt.«
»Versprochen.« Henare küsste sie, dann verabschiedete er sich mit der Ankündigung, er wolle sich jetzt endlich ein wenig hinlegen.
In den kommenden Stunden kam es noch zu einem weiteren, recht heftigen Nachbeben, das im Lazarett für furchtbare Unruhe sorgte. Instrumente flogen umher, Patienten wurden heftig durchgeschüttelt, und hier und da brach ein Zelt ein. Wenig später wurden die nächsten Verletzten gebracht, die erzählten, dass erneut Häuser eingestürzt seien. Auch beim Hotel, das als Notunterkunft diente, war diesmal kein Stein auf dem anderen geblieben.
Erst spät in der Nacht kam Lillian auf ihre Decke in dem Zelt, das sie sich mit drei weiteren Gehilfinnen teilte. Sie hatte sich kaum hingelegt, da übermannte sie auch schon der Schlaf.
Nach drei Tagen im Lazarett gestattete sich Lillian einen freien Tag, den sie nutzen wollte, um einiges zu erledigen. Viele der leicht Verletzten waren inzwischen schon wieder entlassen worden, in eine ungewisse Zukunft, denn nur die wenigsten Häuser waren stehen geblieben.
An diesem Tag würde ihr Großvater bestattet werden, zusammen mit vielen anderen Bewohnern der Stadt, unter anderem auch Mrs Carson und Samantha. Lillian nahm sich vor, auch ihrem Grab einen Besuch abzustatten. Die Traurigkeit wütete in ihrem Innern, doch nach außen hin gelang es ihr, die Form zu wahren, jedenfalls so lange, wie sie im Lazarett arbeitete. Rosie und sie verstanden sich mittlerweile sehr gut; und wie sie berichtete, hatte Rosies Tante ihren Frieden mit Mrs West gemacht.
Die Schneiderin war es dann auch, die Lillian ein schwarzes Kleid für die Bestattung leihen wollte. Unter den Trümmern ihres Hauses war nicht viel Brauchbares übrig geblieben, allerdings hatte ihr Henare mitgeteilt, dass die Aufräummannschaft den Seesack ihres Großvaters in seinem Zelt auf der Baustelle gefunden hatte. Zum Zustand der Sternwarte sagte er nichts, doch sein Schweigen nahm Lillian als Anzeichen dafür, dass nicht viel übrig geblieben war.
Wie viele andere Stadtbewohner hatten Mr und Mrs West bereits kurz nach dem Unglück begonnen, die Trümmer zu beseitigen. Das Beben hatte eine tiefe Wunde in den Schneidersalon gerissen, doch die Mauern waren nicht vollständig eingestürzt. Als Lillian davor haltmachte, schob Mr West gerade eine Schubkarre nach draußen.
»Ah, Sie müssen das Mädchen sein, auf das meine Frau wartet. Kommen Sie rein, wir haben die Mitteldecke abgestützt, sodass Ihnen nichts mehr auf den Kopf fällt.«
Doch das brauchte sie gar nicht, denn Mrs West hatte sie bereits gesehen. Mit ernster Miene
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