Der Rote Mond Von Kaikoura
herunter. Er war wirklich köstlich.
»Einen oder zwei Tage«, antwortete Georg, während er seine Decke zusammenrollte. »Möchtest du noch einen von diesen Fladen? Ich glaube kaum, dass man sie lange aufheben kann.«
Lillian schüttelte den Kopf. »Nein, iss du ihn ruhig, ich habe von dem einen genug.«
»Und ich bin ein alter Mann, der nicht mehr so viel essen kann.« Georg lächelte breit. »Was hältst du davon, wenn wir ihn uns auf der Fahrt teilen? So lange wird er schon frisch bleiben.«
»In Ordnung, Großvater!«, entgegnete Lillian und erhob sich, um ebenfalls ihre Bettstatt abzubrechen. Als sie dabei den Blick wieder dem Kutscher zuwandte, war dieser von dem Stein verschwunden.
4
Zwei Tage später, um die Mittagszeit, wenn Lillian sich beim Sonnenstand nicht täuschte, tauchte Kaikoura vor ihnen auf. Von Weitem besehen wirkte die Stadt wie eine braun getigerte Katze, die sich in dichtes Gras kuschelte. Der Eindruck verschwand allerdings beim Näherkommen rasch. Aus den verwaschenen braunen Flecken wurden Häuser, die hellen Streifen verwandelten sich in Straßen. Während die Gebäude am Stadtrand, die Wohnhäuser und Lagerhallen, alle noch recht neu wirkten, befanden sich im Inneren ältere und größere Gebäude.
Wenn ich Adele doch nur ein Bild hiervon schicken könnte, dachte Lillian etwas wehmütig, denn die Stadt unterschied sich sehr von den Orten, die sie bislang besucht hatte. Und Adele war noch weniger herumgekommen als sie selbst. Vielleicht sollte ich mich eines Nachmittags auf diese Anhöhe setzen und die Stadt zeichnen, ging es ihr durch den Kopf.
Georg kramte derweil einen Zettel aus seiner Jackentasche; dann wandte er sich an den Kutscher. »Wissen Sie, wo sich die Green Street befindet? Wir müssten zur Nummer zehn.«
Der Kutscher nickte. »Ich bringen Sie hin, Sir.«
»Vielen Dank!« Georg schob den Zettel wieder in die Tasche. »Ich bin gespannt, wie unser Haus aussehen wird. Hoffentlich ist es keine Bruchbude, die uns dieser Caldwell stellt.«
»Keine Sorge, er wird uns schon nicht in einen Schuppen stecken«, beruhigte Lillian ihn. »Er war doch stets freundlich und hilfsbereit. Und außerdem ist er sehr angesehen.«
»Ansehen füllt noch nicht die Kasse, mein Kind«, gab ihr Großvater zu bedenken. »Er mag vielleicht von den Leuten nicht so verlacht werden, wie ich es zuweilen erlebt habe, doch auch er muss sehen, wie er selbst auf die Füße kommt.«
Lillian schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er dich zu dieser Reise ermutigt hätte, wenn es ihm an Geld mangeln würde. Aber jetzt sind wir da und müssen uns überraschen lassen.«
Die Kutsche rumpelte noch eine Weile die Hauptstraße entlang, vorbei an kleinen Geschäften, einer Polizeistation und zahlreichen Wohnhäusern, von denen einige aussahen, als gehörten sie gut situierten Bürgern. Doch manche waren auch in einem recht schlechten Zustand. Je weiter sie sich wieder von der Stadtmitte entfernten, desto schäbiger wurden die Häuser, sodass Lillian nun doch ein paar Zweifel überkamen. Was wusste sie denn schon von ihrem neuseeländischen Gönner?
Etwa drei Jahre war es her, dass ihr Großvater zum ersten Mal mit James Caldwell, einem Physiker aus Christchurch, Kontakt aufgenommen hatte. Viel Hoffnung, Zustimmung für sein Unternehmen zu finden, hatte Georg Ehrenfels nicht gehabt, dennoch war er nach seinem alten Leitspruch verfahren, dass das Glück mit den Mutigen ist. Und er hatte recht behalten. Caldwell war ganz begeistert gewesen von der Idee, mit einer Sternwarte ein wenig mehr Fortschritt nach Neuseeland zu bringen, und seitdem herrschte reger Briefverkehr zwischen den beiden Männern. Als das Projekt Gestalt anzunehmen begann, hatte er sich bereit erklärt, Georg bei seinen ersten Schritten im neuen Land zu unterstützen. So mussten sich Lillian und ihr Großvater nicht um Papiere und sonstige Formalitäten kümmern; das hatte Caldwell alles schon für sie erledigt. Und er hatte ihnen auch eine Bleibe gesucht, ein altes Haus, das er günstig erworben hatte und in dem sie vorerst zur Miete wohnen würden. Sicher war an dem Gebäude einiges zu tun, doch Lillian war voller Tatendrang. Egal, wie das Haus aussah, sie würde es schon bewohnbar machen.
Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen sich nicht zu bewahrheiten, als sie die Nummer zehn in der Green Street erreichten. Das Haus war komplett aus Holz errichtet, wirkte aber stabil und ordentlich. Die Farbe blätterte von den Fenstern und
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