Der Rote Mond Von Kaikoura
Lillian. »Mein Bedürfnis nach Seide und Spitzen hat sie nicht gerade geweckt.«
»Obwohl dir beides sicher wunderbar stehen würde.«
»Die Kleider haben vor allem eines getan: mir die Luft abgeschnürt! Und ich glaube kaum, dass eine Dame an der äußeren Hülle gemessen werden kann. Um eine zu sein, braucht man Benehmen und Intelligenz, und beides kann man nicht bei einer Schneiderin kaufen.«
»Schade eigentlich«, entgegnete Georg mit Schalk in den Augenwinkeln. »Gerade was diese beiden Tugenden angeht, wäre es schon gut für einige Leute, sie kaufen zu können. Aber bei dir brauche ich mir keine Sorgen zu machen, du bist intelligent und kannst dich benehmen. Wenn man es genau nimmt, könntest du Benimm sogar verkaufen, so viel hast du davon. Aber vielleicht solltest du wirklich damit beginnen, dich ein wenig damenhafter zu verhalten. Sonst endest du mir am Ende noch als alte Jungfer.«
»Keine Sorge, ich werde schon einen Mann finden«, entgegnete Lillian augenrollend. In letzter Zeit machte ihr Großvater immer häufiger Anstalten, sie für das andere Geschlecht zu begeistern. Dabei war das eigentlich gar nicht nötig. Der Mann aus Christchurch schlich sich immer wieder in ihre Gedanken, manchmal zu den unpassendsten Gelegenheiten. Vielleicht sollte ich ihn erwähnen, damit Großvater Ruhe gibt, dachte sie, und war schon kurz davor, es zu tun, doch etwas hielt sie letztlich wieder davon ab. Und auch ihr Großvater schien nicht daran interessiert zu sein, das Thema weiterzuverfolgen.
»Ich werde heute eine kleine Runde durch die Stadt machen, mir alle möglichen Geschäfte ansehen. Wer weiß, vielleicht gibt es sogar einen Händler, der mir Teile für meine Geräte verkaufen oder neue beschaffen kann.«
»Ich könnte dich doch begleiten!«, rief Lillian aus, denn ihre Lust, sich mit Samantha zu treffen und wieder Opfer einer Verschönerungsaktion zu werden, wurde immer geringer. »Immerhin kenne ich mich schon ein wenig in der Stadt aus!«
Aber Georg schüttelte den Kopf. »Nein, geh du ruhig zu deiner Verabredung. Es wäre unhöflich, deine neue Freundin zu versetzen, immerhin ist es sehr nett von ihr, dass sie dich einlädt.«
Lillian hätte beinahe entgegnet, dass sie nicht darum gebeten habe, aber sie spürte, dass ihr Großvater aus irgendeinem Grund heute Nachmittag allein sein wollte.
»Also gut, dann geh allein«, lenkte sie ein und zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht treffen wir uns ja auf dem Rückweg, dann kannst du mir berichten, was du gefunden hast. Und geh auf jeden Fall am Hafen vorbei, die Krabbenfischer sind sehr interessante Leute.«
Georg strich Lillian kurz übers Haar und lächelte. »Das lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.«
Während sie darüber nachdachte, was ihr Großvater an diesem Nachmittag wohl vorhatte, schlüpfte Lillian schließlich in ihr bestes Kleid und machte sich zurecht für die Teestunde. Die Vorstellung, Samanthas Eltern gegenüberzutreten, machte sie nervös. Sie erinnerte sich noch gut an die Treffen mit Adeles Eltern, die, je älter sie wurde, immer weniger Verständnis dafür aufgebracht hatten, dass sich ihre Tochter mit der Enkelin eines stadtbekannten, verschrobenen alten Wissenschaftlers abgab. Zwar hatten sie nie den Versuch unternommen, ihre Tochter von ihr fernzuhalten, aber in ihrer Gegenwart hatte Lillian stets das Gefühl gehabt, dass sie sie nicht für standesgemäß hielten.
Wie würden die Carsons sein? Dass sie Geld hatten, war unübersehbar gewesen. Und dass sie Samantha von vorn bis hinten verwöhnten, ebenfalls. Würden sie ebenso wie Adeles Eltern glauben, dass sie keine passende Bekannte für ihre Tochter war? Selbst ihr bestes Kleid konnte nicht mit denen von Samantha mithalten. Man sah ihr an, dass sie aus keinem reichen Haus kam.
Noch kannst du hier bleiben und den Nachmittag über den Büchern verbringen, sagte sie stumm zu ihrem Spiegelbild. Doch es wäre unhöflich, einfach nicht zu erscheinen, und ihr Verhalten würde letztlich auf ihren Großvater zurückfallen. Also richtete sie ihre Frisur und verließ dann das Haus.
Auf dem Weg zum Warehouse hielt sie Ausschau nach ihrem Großvater, der eine Stunde vor ihr das Haus verlassen hatte, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Entweder hatte er den Buchladen der Stadt gefunden, oder er war unten bei den Krabbenfischern.
Schließlich erreichte sie das Warehouse, das an diesem Nachmittag gut besucht war. Die Verkäuferinnen hatten alle Hände voll zu tun, und es
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