Der Rote Mond Von Kaikoura
der Verstand einer Frau nicht dafür geschaffen, komplexe Überlegungen anzustellen.«
Lillian zog verdutzt die Augenbrauen hoch. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie darauf erwidern sollte. Hielt Ravenfield sie für dumm?
»Mr Ravenfield«, sagte sie dann und versuchte, betont ruhig zu bleiben. »Zufällig trage ich mich mit wissenschaftlichen Ambitionen, außerdem bin ich die Assistentin meines Großvaters und hege den Wunsch, das zu bleiben.«
Auf einmal fühlten sich die Scones in ihrem Magen wie Steine an. Sie wusste nicht, warum, aber der Speisesaal erschien ihr plötzlich bedrückend, und das Lächeln, das sich auf Ravenfields Gesicht ausbreitete, wirkte wie eine Provokation.
»Ich denke, Mr Arana ist sein Assistent. Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie eines Tages auf der Sternwarte arbeiten werden?«
Das war zu viel für Lillian. Sie legte die Serviette beiseite und erhob sich. Sie musste jetzt Würde bewahren, schließlich wusste sie sehr gut, dass alle Blicke auf ihr ruhten und ihr Verhalten auf ihren Großvater zurückfallen würde.
»Ich danke Ihnen für die Einladung und das aufschlussreiche Gespräch. Leider muss ich mich jetzt verabschieden, denn es wartet Arbeit auf mich.«
Damit wandte sie sich um und verließ unter Aufbietung all ihrer Beherrschung den Raum. Nur kurz hatte sie die Hoffnung, dass er ihr nachlaufen und ihr erklären würde, dass er alles nicht so gemeint hatte. Doch nur der verwunderte Blick des Portiers folgte ihr, als sie durch die Glastür nach draußen stürmte.
Ein Geräusch schreckte Georg aus seiner Lektüre. In der Annahme, dass einer der Arbeiter etwas von ihm wissen wollte, wandte er sich um und sah einen Mann in der Tür stehen. Sein Gewand schlotterte ihm um den mageren Leib, seine Haare flossen grau und dünn über seine Schultern. Die Tätowierungen auf seinem Gesicht wirkten, als seien sie mit einem Meißel in seine Haut gegraben.
Ein Schauer rann Georg über den Rücken. Schon im Dorf hatte er ihn gesehen, doch er war nicht sicher gewesen, ob es sich um jenen Mann handelte, den er vor so vielen Jahren getroffen hatte.
War es möglich? Er neigte den Kopf, betrachtete den alten Mann in der Tür und suchte in seinem Gesicht nach einem Hinweis, der seinen Verdacht bestätigte.
Und er fand ihn in den Augen, in denen noch dieselbe Klugheit leuchtete, die dort auch schon in seinen jungen Jahren zu finden gewesen war.
»Haere mai«, sagte Georg, während er sich erhob.
»Es ist lange her«, entgegnete der Alte, während er auf ihn zuging und ihm die Hand reichte. »Ich dachte erst, meine alten Augen würden mich täuschen, als ich dich sah. Doch jetzt erkenne ich, dass du es wirklich bist.«
Georg ergriff seine Hand. »Nimm Platz, alter Freund.«
»Du bist also zurückgekommen, um dein Versprechen zu halten?«, fragte der alte Mann, während er sich auf den Stuhl niederließ. All die Jahre, die er in Nachbarschaft mit den Engländern verbracht hatte, hatten sein Englisch verbessert, doch Georg meinte noch immer, den fernen Widerhall der jungen Stimme zu hören, die einst mit ihm gesprochen hatte.
»Ja, so ist es. Wenngleich ich es nicht so halten kann, wie ich es eigentlich wollte. Die Götter waren mir nicht immer gewogen, musst du wissen.«
Der alte Heiler nickte wissend. »Das sind sie bei keinem von uns. Jeder wird eines Tages auf die Probe gestellt.« Er verstummte kurz und blickte geistesabwesend durch das Zelt. »Das Mädchen ist deine Enkeltochter?«
»Ja, das ist sie«, antwortete Georg mit einem wehmütigen Lächeln. »Eines Tages wird sie diesem Haus hier vorstehen.«
»Einem Haus für die Kinder des Lichts«, setzte der Heiler hinzu.
»So ist es.«
»Weiß sie, was du versprochen hast?«
Georg schüttelte den Kopf und krallte die Hand an die Tischkante, als würde ihn eine ungute Erinnerung überkommen. »Nein, sie weiß es nicht. Noch nicht. Aber ich habe alles aufgeschrieben. Alles von damals, und bald schon werde ich es sie wissen lassen. Ich bin sicher, mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Bist du krank?«
Georg schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mehr als jeder andere alte Mann. Aber ich bin jetzt schon weit über siebzig Jahre auf dieser Welt. Und ich habe die Ahnung, dass ich nicht mehr lange bleiben kann.«
» Papa und rangi rufen also nach dir.«
»Ja, es scheint fast so.«
»Mir geht es ebenso, auch mich rufen sie. Und jetzt erkenne ich, dass sie mich nur zu einem Zweck noch nicht von dieser Welt gerufen haben:
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