Der rote Norden - Roman
über die Augen, er hält Ausschau nach mir. Er winkt. Ich winke zurück. Ich überquere die Strasse. Martin hat sich wieder gesetzt. Nur noch ein paar Schritte durch die Büsche und dann bin ich bei ihm. Ich setze mich. Ich atme heftig. Ich weiss, ich bin zu dick, und ich weiss, dass ich deshalb so rasch ausser Atem gerate. Er blickt auf und sagt nur: »Ist es schön gewesen?« Ich nicke. Der Holztisch ist leer, Martin hat die Bananen und die Tüte mit den Mandeln bereits eingepackt. »Können wir gehen«, fragt er, »oder möchtest du noch etwas warten?«
Ich blicke auf meine dicken Hände auf dem Tisch. Es ist überraschend, dass ein Mensch zu einem anderen Menschen so freundlich sein kann. Dann denke ich an den Fluss, den ich erlebt habe. Ich möchte etwas sagen, aber die richtigen Ausdrücke fallen mir nicht ein. Darum sage ich nur: »Wir können gehen, Martin«. Und ich sage noch »danke«.
Er lächelt. Sein ganzes Gesicht lächelt. Seine Augen erinnern mich an den Martin, der vor vielen Jahren gelebt hat, aber anders als damals liegen seine Augen nun tief in den Höhlen.
Wir fahren weiter. Martin fährt, und ich schaue aus dem Fenster. Er hat mich gefragt, ob ich selber fahren will. Aber ich möchte lieber bei dem Gefühl bleiben, das ich empfunden habe, wie ich den reissenden Fluss gesehen habe und dann die gezackten roten Blättchen auf dem stillen schwarzen Wasser.
15.
Ich sehe am Strassenrand eine Hinweistafel: DAASIIN . Martin sagt: »Das ist ein Museum, möchtest du es sehen?«
»Ein Museum? Wie gestern?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, das ist ein« – er sucht das Wort – »konventionelleres Museum. In das von gestern sind wir gegangen wegen der Aussicht, wegen des Blicks.«
»Konventionell?«, sage ich und füge hinzu: »Ich würde es gerne sehen«.
Wir fahren noch gut fünf Minuten, dann sehen wir das Museum. Es ist ein fensterloser Kubus, aus rötlichem Stein, vielleicht ist es derselbe Stein, den ich an der Strasse – auf dem Weg zum Fluss – gesehen habe. Vor dem Museum liegt ein riesiger Parkplatz, auf dem wenige hingestreute Autos stehen. Und bei der Einfahrt auf den Parkplatz befindet sich eine Tankstelle, an der Martin vorbeifährt. Er parkt das Auto gleich beim Eingang, einer riesigen rechteckigen Öffnung, zu der eine Betontreppe hochführt. Wir steigen sie hinauf, stehen vor einer Glastüre, auf der in mehreren Sprachen steht, dass dies das Museum des Roten Nordens ist. Es stehen auch die Öffnungszeiten auf der Türe angeschrieben.
Martin macht einen Schritt auf diese Türe zu; sie öffnet sich. Hinter einer langen, angeleuchteten Theke aus hellem Holz sitzen zwei bebrillte Damen in gepflegten Uniformen. Die eine verkauft Martin die Eintrittskarten, die andere überreicht mir einen Übersichtsplan für das Museum DAASIIN .
Das Museum ist dunkel. Es scheint mir als eine Art gewundener Gang geformt zu sein. An den Seiten dieses Gangs befinden sich erleuchtete Schaufenster, mit deren Hilfe man den Roten Norden verstehen sollte. Es wird erklärt, warum hier Birken wachsen. Es wird erklärt, warum ihre Blätter rot sind. Es wird erklärt, welche Vögel hier leben (ich habe in den anderthalb Tagen, in denen ich hier bin, keinen einzigen Vogel gesehen oder gehört, aber offenbar gibt es hier viele Vögel). Es werden die Säugetiere, die im Wald leben, gezeigt. Das Museum zeigt sie ausgestopft und in künstlicher Umgebung in seinen Schaufenstern und auch in leicht verständlichen Videofilmen. Gewaltige Bären leben im Roten Norden, sie verkriechen sich im Winter in ihre Höhlen, schlafen und versiegeln den Darmausgang mit einem Zapfen. Die Bärinnen gebären ihre Kinder sozusagen im Schlaf in der Höhle. Hermeline, eine Wieselart, leben hier. Sie stehen im Schaufenster auf den Hinterbeinen und starren mit riesigen dunklen Augen durch die Glasscheibe. Die Kinder der Hermelinfrauen sind winzig, nur drei Gramm schwer, wenn sie zur Welt kommen. Bei den Hermelinen bleiben die Männer bei der Familie; die Bärinnen müssen alles selber erledigen.
Das Museum zeigt, wie sich die Rentiere im Schnee fortbewegen. Es muss Elche hier geben, riesige, langnasige Hirsche, die im Video durch den dicht fallenden Schnee stapfen. Ganz verschiedene Fische leben in den Seen hier, die im Winter gefrieren. Doch den Fischen macht das nichts. Sie leben unten auf dem Grund des Sees, wo das Wasser vier Grad warm ist. Ich gehe von Guckkasten zu Guckkasten und schaue mir die Exponate und die verschiedenen
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