Der rote Salon
ich mich mit einem hageren Mann auf der Wartebank, der ebenfalls zur Leichenschau geladen war, während sich Jérôme noch geschlagene fünf Minuten in Distels Polizeigriff wand. Irgendwo hatte ich auch diesen Herrn neben mir bereits gesehen. Blondes, leicht gewelltes Haar, blaue Augen. Grauer, eng anliegender Frack, gelbe Weste, weißes Hemd, graue Kniebundhose mit gelben Gallonstreifen. Seine Hände waren zartgliedrig und fein. Er stand höflich auf und verbeugte sich mit leicht schmerzverzerrtem Lächeln. Sein Nacken schien steif zu sein, und das kleidsam um den Hals geschlungene Tuch kam mir eine Idee zu breit vor. Wortlosnahm er wieder Platz und starrte die langweilige Backsteinwand an.
Ein weiterer Kandidat wurde hereingeführt: untersetzt, schwarzhaarig – in Habitus und Gesicht dem toten Dampmartin gleichend. Ich verstand sein Gemurmel nicht, als er sich gegen mich verbeugte. Der hagere Blonde grüßte ihn von gleich zu gleich, doch was er nach
Bürger
flüsterte, verstand ich nicht bis auf den Satz:
Wir sind zu spät gekommen
. Er sprach dem anderen recht schwach sein Mitgefühl aus. Es war Dampmartins Bruder, nahm ich an. Eine Vermutung, die sich bewahrheiten sollte.
Ich sann, benommen nach dem Anblick meiner toten Reisegefährtin, über die Gewalt und die Revolution nach, soweit ich sie miterlebt hatte.
Wir haben in drei Tagen den Raum von drei Jahrhunderten durchquert,
hatte einer gesagt. Ich wäre die Letzte, die am Töten von politischen Feinden Gefallen fände oder die Hinrichtung von Adeligen guthieße – die Letzte auch, die in einer Erfindung wie der des Doktors Guillot etwas anderes sähe als eine höllische Mordmaschine. Das Fallbeil der Pariser Todesfabrik, des finsteren Schlachthofs Revolution, war das fürchterliche Denkmal einer zuvor nie erlebten Entfesselung eines geknebelten großen Volkes. Die Menschen brüllten
An die Laterne,
sie trugen die blutigen Köpfe ihrer Opfer auf Piken durch die Straßen, traten Erhenkte in den Gassenkot, warfen mit abgerissenen Gliedmaßen. Niemand kann den Gang der Geschichte aufhalten. Heute noch wache ich mitunter nassgeschwitzt auf, wenn mir eine der blutigen Szenen unheimlich aufscheint, die ich miterlebte. Damals schützte uns die verhängnisvolle Gewöhnung an das Schreckliche vor dem Verrücktwerden.
Jérôme und ich hatten das Wohlwollen der ungestümen Machthaber genossen, die zuweilen erst mordeten, dannnachdachten. Es war nötig, die gefährliche Masse bei Laune zu halten, und dazu taugte unser Aerostat recht gut – eigentlich wenig Unterschied zum Rom der Cäsaren! Jérôme hatte sich zuletzt als Ausbilder der Revolutionsarmee als nützlich erwiesen und erstmals einen militärischen Beobachtungsballon erfolgreich eingesetzt. Unsere Ballonaufstiege machten uns eine Weile unantastbar, und wir hätten bei einer Auffahrt leicht ins Ausland enteilen können. Doch als uns endlich diese Idee kam, war es schon zu spät: Eines Morgens fanden wir nur noch die Reste unseres Ballons – die Seide war zu Soldatenhemden zerschnitten. Die Republik führte Krieg gegen die Reaktion. Österreich, Preußen und England hatten sich gegen das wild gewordene Frankreich verschworen.
Anfänglich zeigten sich die politischen Lager noch offen für wirklichen Austausch. Man diskutierte die Nächte hindurch und trank sich gemeinsam in einen Rausch der freiheitlichen Brüderschaft. Nach dem großen Aufstand gegen die Revolution allerdings nicht mehr ... Der Wohlfahrtsausschuss entwickelte sich zum Mördersyndikat und bediente sich des Revolutionstribunals für seine Zwecke. Immer schneller rollten die Köpfe, eine maschinelle Enthauptung der politischen Gegner begann. Die neue Verfassung wurde nicht in Kraft gesetzt: Zuerst sollte der Terror jeden Volksschädling vernichten. Das Ansehen der Revolution beim Volk ertrank im Blut. Auch was ich anfangs bewundert hatte, das freie Wirken selbstbewusster kluger Frauen, wurde unterdrückt. Frauen waren wieder rechtlos wie immer. Ich habe im Salon der Gouze, einer klugen und scharfzüngigen Vorkämpferin der Gleichachtung von Frau und Mann, viele der männlichen Revolutionäre schwadronieren hören: intelligente, schlaue Rhetoriker zumeist, kleine Wesen mit großem Mundwerk; die meisten vonihnen waren hochgekommene Anwälte. Danton, Mirabeau, Robespierre und – einmal, wie ich mich später erinnerte, auch Arrat ... Ich schielte noch einmal zu dem Herrn an meiner Seite. Verdammt: Das war Arrat!
Als Jérôme wieder herauskam und
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