Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der rote Salon

Der rote Salon

Titel: Der rote Salon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Wolf
Vom Netzwerk:
nachsah, wurde ich von einer älteren Frau ins Visier genommen, die von Besorgungen zurückkehrte und den beiden zunickte. Sie verneigten sich, ohne den Vorwärtsdrang zu zügeln. Wahrscheinlich waren es Mitbewohner.
    Die Alte trug einen Korb mit sorgsam gegen den Frost eingewickelten Einkäufen und musterte mich eingehend im Näherkommen.
    »Wohin wollen Sie, mein Fräulein?«
    »Ich ... mein Mann und ich, wir suchen eine Wohnung ...«, stammelte ich und bekam diese Notlüge vor Kälte kaum heraus. Urgroßvater hatte auf die gleiche Weise mit seinen Nachforschungen im Fall des toten Falckenberg begonnen. Meine Worte schienen halbwegs überzeugend geklungen zu haben, denn sie sagte lächelnd:
    »Folgen Sie mir hinein, meine Liebe, Sie erfrieren mir ja sonst noch hier auf dem Cour d’honneur! Sie haben Glück, es ist etwas frei geworden, gut und groß für zweie, leider etwas teuer. Haben Sie Kinder?«
    Ich schüttelte den Kopf, und sie lachte erleichtert.
    »Nicht, dass es mich stören würde, aber es gibt empfindliche Musiker im Haus. Die zwei Herren da eben zum Beispiel. Noch keine zwei Jahre ist es her, da spielten sie noch in Paris!«
    Wir betraten das einstige Sommerhaus der Schwester des großen Königs durch die mittlere von drei hohen Türen. Eine düstere Halle empfing mich, von der eine Treppe in breiter Spirale nach oben ging. Ich blickte in den Schacht des Treppenhauses.
    »Kommen Sie nur, es ist ganz oben, im zweiten Obergeschoss!«
    Das Appartement, in das ich geführt wurde, ließ mich auftauen, obwohl die Temperatur, die darin herrschte, nur knapp über dem Gefrierpunkt lag. Während die Frau in die Küche ging, um ihr Gemüse zu verstauen, sah ich mich um. Man hatte die beiden Räume von einer größeren Enfilade abgetrennt, um mehr Wohnraum zu schaffen. Im großen Zimmer bestach eine grüne Seidenbespannung: Eingewebte Teerosenblätter und -blüten überzogen die Wände bis zur goldenen Stuckleiste unter der Decke, die aus riesigen Muschelschalen und dazwischenliegenden Wappenschilden bestand.
    An vielen Stellen war das Gold verblichen oder abgeplatzt. Ein riesiger dunkelbrauner Fleck verunzierte die vormals weiße Decke. Auch die Wandbespannung zeigte Risse und Feuchtigkeitsschäden. Der Zustand des Parketts war schlechthin lebensgefährlich. Mehrere Stücke fehlten ganz. Kein Kristall baumelte mehr an den Krakenarmen des Kronleuchters; zur abendlichen Beleuchtung diente eine große Ölfunzel, die auf einem Konsoltisch stand. Auf diesem lagen ein Stapel Noten und ein Stoß Tarotkarten. Neben einem Sofa zeigten sich ein Sekretär, ein Tisch mit einer Teekanne und einer Tasse, ein paar Stühle, ein Nussbaumkleiderschrank, eine Truhe und ein großes Etwas, das ich zunächst für eine zusammengefaltete spanische Wand hielt. Es war recht hoch, wie eine lebensgroße Statue, und mit einer Decke verhüllt.
    »Übrigens müssen Sie schauen, wo Sie hintreten. Ich kann mir hier oben keine Ausbesserung leisten«, sagte die Bewohnerin, die ich jetzt ohne winterliche Vermummung erst richtig vor mir sah. »Ich habe das Palais vor zwei Jahren vom Baron von Wrangel gekauft, als ich nach Berlin kam. Doch die Einnahmen aus der Vermietung des ersten Stockes decken kaum die Kosten. Um auch nur die größten Schäden zu beheben, müsste ich ein Vielfaches aufwenden. Dieses Stockwerk hier wird im Frühjahr ein Opfer des Hausschwammes, wenn ich kein Geld für das Dach auftreibe. Der Herbstwind hat ganze Arbeit geleistet – es sieht aus wie die sturmbewegte See ... Das hier ist das letzte halbwegs nutzbare Winkelchen in der Höhe. Und das Parterre ... ach, reden wir nicht davon. Ich bin froh, wenn die Mauern uns noch eine Weile tragen. Ich würde das Gemäuer ja wieder verkaufen, aber keiner will es haben. Es ist am Ende ... Erst die alten Geschichten, dann das Wetter, und jetzt das ...«
    In der einen Hand trug sie eine Schale, über die ein Küchentuch gebreitet war, in der anderen einen Topf mit heißem Wasser. Sie stellte beides auf den Tisch, warf Teeblätter in die dunkelbraun glasierte Tonkanne, dann ließ sie etwas Wasser darüberlaufen. Sie wartete einen Augenblick, um es in ihre Tasse zu gießen und mit einer schwungvollen Geste auf den Boden zu schütten.
    »Für die durstigen Geister!«
    Aus der zur Unkenntlichkeit vermummten Alten war eine vornehme Dame geworden, in den besten Jahren und voller Leben, groß, mittelblond, mit starken Wangenknochen und einem Ausdruck in Gesicht und Haltung, der beredtes

Weitere Kostenlose Bücher