Der rote Salon
verlor mit Leidenschaft und grämte sich nicht über einen Verlust. Wie anders bewertete er dagegen selbst kleinste Spieleinsätze und vergleichsweise billiges Pech meinerseits!
Nach einigen unvermeidlichen Durchgängen … Poesie, Musik und Luftfahrt betreffend, waren wir schnell beim einzig interessanten Thema, das allen am Herzen lag wie das Heft eines Dolches oder am Hals wie eine Drahtschlaufe:
»Das Allgemeine an der Bedrohung ist so infam«, sagte der Marquis von R***, ein hohes Gerippe im roten Frack. »Ich war Staatssekretär bei der königlichen Finanzverwaltung. Noch vor zwei Jahren empfing mich der König von Frankreich in halbprivater Audienz und zeichnete mich für ein Vierteljahrhundert treues Wirken aus. Ich entkam nur knapp dem herabschnellenden Barbiermesser in seinen Gleitschienen …« Er strich mit langen Fingern an dem Schatten seiner selbst hinab und sagte, sardonisch lächelnd: »Sollten jetzt die Auftragsmörder der Revolution zuwegebringen, was der Hunger des Exils noch nicht vollenden konnte? Oder der preußische Kerker? Ich bekannte mich unlängst im erlesenen Kreis Sr. Majestät zur Kultfeindschaft – jetzt hat die Polizei mein Tagebuch beschlagnahmt. Ist denn jeder gleich ein Feind des Volkes, der die Guillotine flieht? Oder der ein Jakobiner, der ein revolutionäres Ziel begrüßt?«
»Wir können uns ja alle Jakobinermützen aufsetzen, dann kommen wir ganz sicher in den Schutz der Festung!«, rief der Neffe des Herrn Formey, und alle lachten sarkastisch auf. »Ich hatte gestern eine rote Schlafmütze gegen die Kälte auf dem Kopf, als die Polizei bei mir vorsprach. Sie hätten Distels Gesicht sehen müssen! Es war nicht leicht, ihm die feinen Unterschiede in Stoff und Form begreiflich zu machen …«
»Erst ein Brand, dann drei Morde …«, hob Madame de S*** an, die ihren Gatten an das fallende Messer der Volkswohlfahrt verloren hatte, da er
Vive le roi!
auf eine Assignate geschrieben hatte. Das war das revolutionäre Spielgeld aus Papier … »Neuerdings genügt schon die Anzeige eines Kindes, um einen Mann ans rasende Messer zu liefern, und nicht einmal der Erste in der Republik wäre in der Lage, ihn zu retten. Ich gehe nur noch mit geladenem Pistol aus dem Haus.«
»Aber wir sind in Preußen!«, wandte Jérôme ein. »Nach dem neuen Gesetz ist für den Verdacht gegen Émigrés immerhin der achte April letzten Jahres der Stichtag!«
»Papier ist geduldig!«, antwortete die S***. »Glauben Sie, ein Scherge des Pariser Wohlfahrtskommandos fragt nach Ihren Berliner Einreisepapieren, um bei dem Datum keinen Fehler zu machen?«
»Genau meine Meinung!«, krähte der Neffe des Herrn Formey »Ein Datum musste ins Gesetz. Doch was bedeutetdas schon? Im letzten Paragraphen heißt es ja deutlich, dass der Verdacht bestehen bleibt, auch wenn er sich nicht erhärten lässt! Hat man größere Perfidie je in Wort und Schrift verbrieft erlebt?«
Ich kramte in der Erinnerung nach düsteren Verfolgern und sah Jérôme zum Opfer blutrünstiger Golems werden, ferngelenkt von menschenverachtenden Ausschüssen in Paris. Ich würde den Schmerz nie verwinden …
»Im Dezember hat die Commune verfügt, wie man Bürgertreue nachzuweisen hat, und das ist in der Tat schwieriger, als ins ehemalige Paradies zu gelangen, und der heilige Petrus war weniger anspruchsvoll als der Bürger Chaumette! Wenn dieses Dekret genau befolgt würde, wären drei Viertel der Pariser Bevölkerung verdächtig …«, sagte der Marquis von R***, doch die Pointe wurde gedämpft durch das Hereinstürzen eines Gehetzten.
»Die Polizei ist hinter mir her!«, rief der ehemalige Gesandte des französischen Königs in Preußen, Monsieur de la T***. »Nur meine tanzbärenhaften Künste auf dem Eis der Trottoirs haben mich diesen Vorsprung halten lassen!« Jérôme und ich sahen einander an und beschlossen, tapfer auszuharren. Monsieur de la T*** labte sich an der vorzüglichen heißen Schokolade der Herz, dann hallten Schritte vor dem Haus. Der Türklopfer wurde hart angeschlagen. Zwei Polizisten traten ein, finster dreinblickende Gens d’Armes!
Doch die beiden Musiker, die sie eifrig in jedem Winkel suchten, sogar unter dem Sofa und dem Klavier, fanden sie nicht. Und auch im weiteren Verlauf dieses unterhaltsamen Abends, an dem noch manches Wort über die herüberschwappende Gefahr aus Frankreich verloren wurde, warteten alle vergeblich auf den Violinisten René Ballé und den Flötisten Frédéric Bertrand.
Schaurig-schön
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