Der rote Salon
beobachtet?«
»Wir konnten nicht schlafen. Es wurde plötzlich sehr laut im Haus. Wir haben am Dachfenster gehockt und hinuntergespäht. Es tat … eine einen Schrei! Danach sahen wir wieder einen über die Schneewiese laufen.«
»Lief der auch aufs Haus zu?«
»Nein, er lief weg, in den Parkwald!«
»Und auf der Treppe? Habt ihr nicht nachsehen wollen?«
Sie schüttelten synchron die Köpfe, waren verstockt. Hatten nichts weiter gesehen und lehnten jeden weiteren Groschen ab.
4
Schon am nächsten Abend schleppte ich Jérôme in den Salon der Rahel Levin, eine bei Émigrés beliebte Adresse, wo es sehr kultiviert und – leider etwas oberflächlich zuging.
Anmelden musste man sich in keinem Salon, und die Begrüßung war nicht selten die erste Begegnung. Es kamen immer neue Gäste, während sich andere verabschiedeten. Dadurch, dass es vor allem Politiker und Künstler oder zumindest künstlerisch Interessierte waren, gab es das übliche Getuschel und die gekünstelte Freundlichkeit, wenn jemand auftauchte, den alle kannten oder kennen mussten.
»Marquise! Marquis! Ich bin tief bewegt vor Freude! Sie sind meine ersten Aeronauten! Nein, was soll ich sagen?«, sagte die Levin, als sie uns die Tür zu ihrer viel gerühmten Dachkammer öffnete. Eine mausgraue Person mit einem ziemlich hässlichen, bäuerlichen Gesicht, eine übereifrige, grundlos ambitionierte Bankierstochter … Ich musste mich zusammennehmen, dass ich nicht antwortete:
Warum halten Sie nicht einfach Ihren Mund?
Der Raum, in den sie uns hineinbat, war dreimal größer als unser Werk- und Wohnzimmer. »Wir mögen es ungezwungen! Da sind Gebäck und Tee! Greifen Sie ungeniert zu … Kommen Sie, ich mache Sie mit ein paar meiner Gäste bekannt.«
Die Namen waren mir nur Schall und Rauch; es war niemand darunter, der Jérôme oder mich besonders faszinierte. Wenn ich mich richtig entsinne, stellte uns die Maus den ungeschlachten sechzehnjährigen Fähnrich namens Friedrichde la Motte Fouqué vor, der seltsame Grillen in seinem Kopf spann und uns von einer Luftschiffernovelle vorflunkerte, die er angeblich gerade schrieb:
Die Luft-Nixe
… Später hat er sich wirklich dem Fabulieren gewidmet und ist heute der fürchterlichste Schmonzettenschreiber der Weltgeschichte.
Alles stand oder saß, knabberte an Keksen und schlürfte lauwarmen Blätteraufguss. Man rezitierte vornehmlich französische Autoren einer überlebten Epoche, lauschte dem Klavierspiel der ebenso blutjungen wie blutdummen Henriette Mendelssohn und sprach, in stumpfer Verzweiflung über die Tristesse, desto eifriger den geistigen Getränken zu. Der einzige Lichtblick war der Legationssekretär der schwedischen Botschaft. Karl Gustav Brinckmann unterhielt uns mit trefflichen Erzählungen vom Schicksal des unvergleichlichen Pater Brey, dem umtriebigen Franz Leuchsenring, der ein Jahr zuvor Preußen hatte verlassen müssen und jetzt als bekennender Jakobiner in Paris lebte. Dass er 1783 bei eben jenem Friedrich V. von Hessen-Homburg gewirkt hatte, bei dem wir mit Goethe auf der
Redutt
getanzt hatten, war uns ganz neu …
»War die Polizei auch bei Ihnen?«, fragte uns die Levin.
»Bei mir hier in meiner Dachkammer haben diese Barbaren … Ach, ich mag es gar nicht sagen! Es war doch zu garstig. Es geht um einen mehrfachen … Oh, es ist unaussprechlich! Noch etwas Tee, meine Lieben?«
Von den interessanteren Franzosen war keiner zugegen. Wir gingen, als Henriette Fromm den Raum betrat, die Freundin der Levin und der Herz und die bekannteste der vielen Geliebten von Louis Ferdinand … Koketterie, nur ein
o
von Kokotterie entfernt. Und wenn der Geist fehlt, wird selbst die hübscheste Frau zu einem öffentlichen Ärgernis.
Bei Henriette Herz am darauffolgenden Abend begegneten wir einer Reihe weiterer Verfolgter. Die Erzählungen troffen vor Argwohn, Selbstmitleid und Verzweiflung. Auch die halb privaten Zufluchtsorte der Émigrés wurden nun von der Polizei überwacht. Nach Einbruch der Dunkelheit sorgte die Ordnungsmacht für die Zerstreuung, indem sie die Gesellschaften mit vorgehaltenem Bajonett auflöste. Distel war alarmiert. Die mecklenburgischen Prinzessinnen kamen in eine Stadt, in der es vor mutmaßlichen Mördern nur so wimmelte. Das musste einen Polizeichef an seinem Beruf irre werden lassen.
Bei der Herz nahm man kleinere Blätter vor den Mund und spielte eifrig in Vierergruppen Whist: mit vollem französischen Blatt. Jérôme, der ein fanatischer Whistspieler ist,
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