Der rote Salon
Akkorde, Arpeggien – Musik für die Harfe, dies zu erkennen, bedurfte es keiner besonderen Kenntnisse. Von Parry hatte Anne de Pouquet mir erzählt, er war ihr Liebling unter den Komponisten. Ohne Augenlicht, ganz auf die Töne konzentriert: Blindheit und Harfe – kein Romancier hätte das besser erfinden können.
Eine Tasse, ein Teller, ein Messer, ein Löffel. Ein kleiner Kamm aus hellem Horn. Ein Musselin-Turban, wie sie augenblicks Mode waren. Der war mir neu. Das Geschenk ihres Liebhabers? War dieser Unbekannte vielleicht einer der beiden Toten neben Anne gewesen?
Mein Blick fiel auf eine Stelle im spitzen Winkel des grottenartigen Raumes, wo an der rissigen Wand, im Dämmerlicht des Hinterhauses auf Anhieb kaum zu erkennen, etwas in niedriger Höhe aufgehängt war. Es war ein selbst gemachtes kleines Kreuz aus Draht. Ich nahm es ab, um es besser zu sehen. Keine leichte Übung, dachte ich, in diffizilen Arbeiten durchaus geübt. Ohne Vorzeichnung nicht zu machen. Es war ein Balkenkreuz aus vier einander an den Ecken überlappenden Quadraten, von einem Kreis umgeben, der die Quadrate an je zwei gegenüberliegenden Seitenschnitt. Die Schnittflächen waren wiederum Quadrate. Ich legte es in die Bibel. Dann nahm ich es wieder heraus und steckte es unter dem Revers meiner Jacke fest.
Am Boden waren die flachen Stümpfe ungezählter niedergebrannter kleiner Kerzen fast mit dem Holz verwachsen und bildeten einen Igelrücken aus Wachs. Der Gedanke an Anne de Pouquets einsame, stille Gebete in dieser düsteren Gruft war schauerlich. Ein Geräusch ließ mich herumfahren, und ich stieß einen gellenden Schrei aus: Hinter mir standen zwei Männer!
»Nom de Dieu, haben Sie mich erschreckt!«
Der eine von beiden grinste, es war Göttler. Er hatte meine Reaktion offenbar erwartet und es darauf angelegt. Jetzt sagte er scheinheilig:
»Entschuldigung, das wollte ich nicht! Aber eben kam ein Herr, der auch Interesse an den Sachen hat.«
Der weitere Interessent war ein schlanker, nicht eben großer, aber agil wirkender Mann in einem abgetragenen grünen Frack, der nebst einer vormals weißen Weste und einem beigefarbenen Hemd unter seinem dunkelbraunen, sehr eng geschnittenen Redingote hervorlugte. Ich sah sofort, dass er Franzose war und der alten Ordnung anhing, denn Grün war die Farbe der Artois und Weiß die der Bourbonen.
Er hatte seinen Zweispitz gezogen und verneigte sich sehr graziös, dann räusperte er sich und sagte:
»Meine Verehrung, Madame. De Paul!«
Mir fiel das gravierte Türschild ein: Das also war der zurückgezogen lebende Compositeur aus dem Palais. Laut Vermieterin … De Paul sah gar nicht weltfremd aus.
Ich nickte reserviert. Als müsste er die kleinen schweren Sätze aus dem Eiskeller heraufwuchten, hob Göttler hervor:
»Ich möchte hören, wer von Ihnen die Sachen mitnehmen wird. Ich hab vergessen zu sagen, dass ich zwei Gulden dafür verlange!«
»Zwei Gulden?«, ächzte de Paul.
Das war wirklich ein horrender, vollends überzogener Preis für fünf getragene Kleider und ein paar alte Bücher. Der Schurke suchte die Situation auszunutzen.
»Ich gebe Ihnen einen halben, das ist mehr als genug!«, sagte ich. »Und ich zahle diesen Wucherpreis nur, weil es meine Bekannte war, der diese Dinge gehörten.«
Ich las an de Pauls Gesicht, dass er nicht einen Kreuzer hätte aufwenden können oder wollen. Ob Anne de Pouquet ihn näher gekannt hatte? Ob er vielleicht der Liebhaber war? Wieso hatte er dann nicht an der Soirée in der Mordnacht teilgenommen? Was wollte dieser Mann mit Anne de Pouquets Hinterlassenschaft? Frauenkleider? Ich begriff schnell, dass er einzig an den Musikalien interessiert war.
»Ich stimme Ihnen zu!«, sagte er zu mir, und dann zu Göttler, recht erbost: »Sie sollten sich schämen, aus dem Schmerz der Hinterbliebenen Profit schlagen zu wollen! Ich hatte übrigens keineswegs die Absicht, etwas zu kaufen. Meine Mittel lassen dies nicht nur nicht zu, sie sind sozusagen gar nicht vorhanden … Die Parry-Anthologie hatte Demoiselle de Pouquet von mir geliehen. Sie werden es sehen, denn mein Besitzvermerk ist vorne eingeschrieben: AdP.«
Ich musste lachen.
»Anne de Pouquet – AdP. Amadé de Paul – AdP … So einfach ist es nicht, Monsieur! Ein wenig mehr Beweis muss schon sein.«
Er zuckte leicht die Schultern, als wollte er jeden Anflug eines Betrugsverdachts von sich abschütteln und zum Ausdruck bringen, dass es ihm ja gar nicht unbedingt darauf ankäme. Doch
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