Der rote Salon
bringen. Dann hätten Sie das Nachsehen.«
Dieser Fuchs, dachte ich. Jetzt will er aus meinem vorgeblichen Schmerz auch noch Geld schlagen. Doch was blieb mir schon übrig?
Ich wollte in das Zimmer.
»Dazu muss ich erst sehen, um welchen Schatz es geht!«
Er hielt irritiert inne bei dem Wort
Schatz,
sichtlich Reichtümer vermutend, die etwa seinem Blick hätten entschlüpft sein können. Doch zuletzt grinste er wieder.
»Rechts hinten, ganz oben. Sie werden es nicht verfehlen.« Ich wunderte mich zunächst, dass er mich allein gehen lassen wollte. Es wäre ein Zeichen dafür gewesen, dass er nichts zu verbergen hatte. Dass es nichts zu verbergen gab. Zumindest nicht in diesem Zimmer … Dann kam er doch mit.
Über sechs steile, unsichere Stiegen gelangten wir an eine schlecht schließende Tür. Göttler nestelte an seinem Schlüsselbund und schloss auf. Ich stand in Anne de Pouquets letzter Unterkunft. Anders konnte man den Verschlag schwerlich nennen. Sofort war zu sehen, dass die Polizei im Verwischen etwaiger Spuren äußerste Gründlichkeit bewiesen hatte. Die wenigen Dinge, die meine arme Reisegefährtin ihr Eigen genannt hatte, lagen verstreut im Raum, der sich klein und dunkel präsentierte, schmutzig und ohne Feuerstelle.
Göttler blieb hinter mir stehen, bis er sicher war, dass ich nichts stehlen würde, da ich alles in seinem Beisein inspiziert hatte.
»Ich muss in den Laden zurück. Wenn Sie ein Erinnerungsstück finden, müssen Sie mir einen Abstand bezahlen.«
Als er gegangen war, trat ich ans einzige schmale Fenster und blickte in einen tristen Hof. Öde Fensterhöhlen ähnlicher Behausungen starrten mich an. Kein Baum, kein Strauch, nur schmutziger Schnee am Grunde des Schachts. Wie hatte sie das ertragen? Mein Phantasiebild von Anne de Pouquet und dem schönen Unbekannten zerfiel und landete im grauen Staub, der am unebenen, abgetretenen Dielenboden flockte. Wer in diesem Bette lag, sah keine malerische Berliner Winterlandschaft, nur eine bröckeligekünstliche Felswand. Vom Fenster aus erkannte ich Göttlers Hasenknecht – eine verwachsene Gestalt, gegen die Kälte in graue Lumpen gewickelt, bei dessen Anblick sich die Frage, ob Anne de Pouquet und er vielleicht nähere Bekanntschaft geschlossen haben könnten, nachgerade von alleine beantwortete. Er hob seine kantige, holzscheitartige Hand, und –
zack!
Der Hase hing, bei den Löffeln gepackt, mit gebrochenem Genick darin und zappelte noch kurz. Reflexe …
Ich las die Dinge, die Anne hinterlassen hatte, vorsichtig auf, um sie auf der kahlen Bettstatt zu sammeln und zu begutachten: Kleidungsstücke, die mir zum Teil unbekannt, zum Teil auf schmerzliche Weise vertraut waren. Anne de Pouquet hatte einfache, elegante Kleidung geschätzt, so wie ich. Und da sie meine Statur hatte, könnte ich ihre Kleider ihr zu Gedenken tragen. Ich vergoss einige Tränen über diesem Gedanken und drückte einen jadegrünen Kaschmirschal an die Wange, nachdem ich ihn ausgeschüttelt hatte. Ein preußischer Polizeirohling hatte ihn achtlos in den Staub geworfen. Welch ein Kontrast! Die edlen Stoffe und das triste Gelass … Die wunderschönen Caracos in Dunkelgrün, Anthrazit und Aquamarin, mit Revers und Ärmelaufschlägen … Ich durchsuchte die Innentaschen der Jacken, drehte und wendete jeden Schal, jedes Stück Unterkleidung. Ich hob die Strohsäcke auf dem Bett, nachdem ich es abgezogen hatte. Das hatten die Polizisten seltsamerweise vergessen. Nun, seltsam fand ich an dieser Polizeiarbeit im Grunde gar nichts mehr. Nur dass man sich den Weg nicht überhaupt erspart hatte. Sie hatten keine Ahnung, wonach sie suchen sollten.
Darin glich ich Distels Leuten. Aber ich gebot im Gegensatz zu ihnen über eine brennende Neugier. Man mag es eine abstrakte Lust nennen, eine hohle, fast mathematischleere Bestrebung, hinter ein Geheimnis zu kommen. Muss ich hinzufügen, dass auch ein höchst persönlicher Hass auf den Mörder einer viel zu rasch wieder verlorenen Bekannten mitspielte? Hass gehört zur Erotik des Verbrechens …
Neben den Kleidungsstücken (in denen leider kein Anhaltspunkt versteckt lag, weder Zettel noch Brief) fand ich ein vollgeschriebenes Notenheft, eher ein Buch schon, eine Bibel, ein Werk theologischen Inhalts:
De cultu et amore Dei
, sowie eine Anthologie von Melodien, Liedern, Liedmotiven, herausgegeben von John Parry. Sie lag mit dem Gesicht nach unten unter einer umgestürzten Waschschüssel. Ich sah weit gefächerte, gebrochene
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