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Der rote Salon

Der rote Salon

Titel: Der rote Salon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Wolf
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in eine Ecke gerückt worden. Von draußen waren Stimmen zu hören.
    Fast wäre ich vor der Tür mit Jean-Pierre Arrat zusammengestoßen. Er trug noch immer die breite Halsbinde, die ich schon früher an ihm bemerkt hatte. Sein Gruß war oberflächlich, als schiene er sich nicht an mich zu erinnern, doch aus dem Augenwinkel sah ich, wie er Dampmartin, der mich hinausbegleitet hatte, fragend ansah.
    Zwei eigenartige Gestalten folgten ihm auf dem Fuß: ein schmutziger, dürrer Knabe von vielleicht zwölf Jahren und ein kleiner krummer Mann mit Kinderbeinen, breitem Rumpf und ausgedehntem Schädel. Dieser Kopf bestach durch zwei große dunkle Augen in einer hochgewölbten Stirn, die von feinem blauen Geäder durchzogen war. Sein Blick schien mich zu verfolgen, bis ich am Fuße der Treppe angelangt war und in die Abenddämmerung hinaustrat.

10
    Ich erspare meinen Lesern den Bericht meiner vermischten Betrachtungen über Arrat, Dampmartin, die beiden seltsamen Personen, über Harfenspiel, Swedenborg, Walzer, Guillotine, entblößte Schultern und versetze sie ohne weiteren Aufschub in die Kälte des Altjahrabends ...
    Die Temperaturen fielen auf unerahnte Minusgrade. Selbst unsere im Extremen erprobte Laune gefror. Jérôme zeigte sich keineswegs erbaut von der Aussicht, mit allen Größen des Preußischen Staates auf engstem Raume zusammengepfercht zu sein. Doch verglichen mit mir war er geradezu gelöst und vergnügt. Mich quälte die schreckliche, grauenhafte Einsicht, dass ich schlicht nichts anzuziehen hatte – ein Umstand, der weit schwerer wiegt als etwaige Unkenntnis über die Hintergründe eines dreifachen Mordes. Daran, ihn aufzuklären, wagte ich an diesem Abend schon fast nicht mehr zu denken.
    »Männermode, pah! Du hast es leicht! Ziehst einfach eine hübsche blaue Jacke über, steckst ein paar Orden an, schlingst Dir eine weiße Halsbinde um und bist fertig! Ich dagegen ...«
    Es dauerte lange, das Richtige zu finden, und die Suche zerrte an meinem Nervenkostüm. Eisenhart und undurchdringlich wie einen Harnisch hätte ich es mir gewünscht. Am Ende lief es auf eine Variation des Hochzeitsfestkleides hinaus: Eine weiße Chemise mit einer bleumoranten Schärpe und einem gleichfarbigen Seidenschal aus Anne dePouquets Besitz, dazu trug ich einen Mousselinturban – in der Farbe des Rotfuchsmantels.
    Die Berliner veranstalteten bereits seit Stunden gehörigen Jahresendzeitlärm, obwohl es gerade mal halb zehn Uhr am Abend war, als wir uns die hoffnungslos vereiste Wilhelmstraße entlangtasteten. Wir hätten die Fußkufen mitnehmen sollen, denn
l‘Être suprême
hatte aus Spaß den Boden tiefgefroren, die Luft aber wieder warm werden lassen. Der Regen, der seit dem Nachmittag sprühte, machte die Straßen zu Schlittschuhbahnen.
    Als wir zum vereisten Palais abzweigten, das wie eine glasierte bunte Kastenpastete aussah, füllten die Kutschen bereits in Zweierreihen die Zufahrt. Ein solches Wagenspalier war man nur vom Platz neben dem Königlichen Opernhaus gewohnt. Direkt vor der Mitteltür parkte eine elegante nachtblaue Berline mit vergoldeten, vielfarbig ausgemalten Wappenschilden, Lampen und roten Zierleisten – des Königs Kutsche. Der geschlossene rote Landauer des Kronprinzenpaares stand dahinter, gefolgt von den farblich gedeckteren des Justizministers (grün) und des Außenministers (schwarz).
    Als wir den Salon betraten, herrschte schon drückende Enge. Die Hausherrin grüßte im Vorbeifliegen, wohingegen uns zwei Polizeioffiziere mit Argwohn musterten. Auch ihr oberster Chef war zugegen. Er hielt mit Wöllner Kriegsrat, bevor er sich, eisig grüßend, hinausstahl. Seine Beamten waren gut verteilt, aber entspannt wirkte er nicht.
    Die Luft im Raum war schwül, fast drückend, denn der riesige Kachelofen kochte. Allein die Körperwärme der etwa sechzig Gäste hätte genügt, den Salon wohlzutemperieren. Der Kamin indes gähnte vor Leere, denn sein Knacken hätte die Musikdarbietung gestört. Ein Buffet war vor seinerHöhlung aufgebaut, an dem sich schon alle gütlich getan hatten, als wir eintraten.
    »Die Kleidersorgen meiner Frau ließen mich fast verhungern ...«, alberte mein gefräßiger Mann und schnappte die letzten zwei Canapées mit
Foie gras
. Ich verzichtete trotzig, als er mir eins hinhielt. Ich hätte in diesem Moment nichts hinunterbekommen.
    »Marquise, ist alles zu Ihrer Zufriedenheit? Marquis?«
    Der Diener Karl.
    »Herr Groth! Wollten Sie nicht aufs Land? Was anderes anfangen? Von

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