Der Rote Tod
gelähmt auf dem Stuhl.
Ihr Mann hatte die Haut nicht losgelassen. Bewusst etwas länger klemmte er sie zwischen seinen Fingern fest, um sie urplötzlich zu den verschiedensten Seiten wegzuziehen.
Sie straffte sich.
Aber nur für einen Moment, denn dann riss sie auf – und es quoll das Blut hervor.
Es war der Moment, an dem die Frau losschreien wollte oder einfach musste. Auch das brachte sie nicht fertig. Zu ungeheuerlich war das, was sie sah.
Das Gesicht ihres Mannes, das wirklich nur eine halbe Armlänge von ihr entfernt war, riss an verschiedenen Stellen auf, als hätten die Finger an einem dünnen Papier gezogen.
Und überall, wo sich die Spannung auf dem Gesicht ausbreitete, riss die Haut entzwei. Es entstanden die kleinen Wunden, aus denen das Blut träufelte und dabei in der Nähe der Ränder blieb.
Gertrud fand keine Erklärung. Was sie hier sah, es ging über ihr Begriffsvermögen. Das war einfach nicht mehr nachvollziehbar, aber sie schaute weiterhin zu, wie sich das Gesicht ihres Mannes in eine blutige Fratze verwandelte.
Doch ein Gedanke oder eine Folgerung ließ sich nicht mehr abschütteln. Gertrud Kohler wusste jetzt, wer der Rote Tod war. Und zwar ihr eigener Mann, mit dem sie schon so viele Jahre zusammenlebte und in dem sie sich so getäuscht hatte.
Das war für sie der eigentliche Schock. Nicht so sehr das dunkle Blut, das sogar noch roch, wobei sie nicht fähig war, diesen Geruch einzustufen.
Ein ekliger Vorgang. Ein widerliches Gesicht, das einem Menschen gehörte, obwohl sie Richard nicht mehr als einen normalen Menschen ansah. Der war ein anderer geworden, und er hatte ihr jetzt seine wahre Seite gezeigt.
Am Tisch saß ein Monster!
Er ließ seine Hände sinken. Einige rote Flecken klebten daran. Mit der Serviette wischte er sie ab und richtete seine blutigen Augen wieder auf Gertrud.
Ein Gefühl bedrückte sie. Jetzt musste sie einfach etwas sagen. »Du bist es also. Du bist der Rote Tod!«
»Ha, ich.«
»Die Legende...«
»Die nichts vergessen hat. Die zurückkehrte, um sich zu rächen. Ich habe viele Menschen geheilt, und ebenso viele werde ich nun umbringen, damit das Gleichgewicht wieder hergestellt ist.«
Sie begriff nichts. Was sollte das mit den geheilten Menschen und mit denen, die er umbringen wollte. Wo steckte da der Sinn? Gertrud Kohler sah keinen.
Dafür stellte sie fest, dass sie nicht mehr so starr war. Sie würde sich wieder bewegen können und fing damit an. Beide Hände legte sie auf den Tisch, um den Körper vom Stuhl zu stemmen. Sie musste so handeln, denn ein einfaches Aufstehen war ihr nicht mehr möglich.
Nur hatte Richard etwas dagegen.
»Nein!«, befahl er nur.
Sie gehorchte und fiel wieder zurück. Dieses eine Wort hatte sie geschafft, so kannte sie Richard. Sie war, wenn sie darüber nachdachte, stets ein Spielzeug in seinen Händen gewesen. Den eigenen Willen hatte Gertrud nie richtig durchsetzen können. Es wurde immer getan, was er wollte, und jetzt war es nicht anders.
Noch immer klebte das Blut in seinem Gesicht. Allerdings war es so fest, dass es sich nicht von der Stelle löste, sondern auf der Haut und nahe der Wunden kleben blieb. Auch als er den Kopf jetzt bewegte und dabei seinen Körper lässig nach hinten drückte, rann kein einziger Tropfen von seiner Stelle weg.
»Du wirst mitspielen, Gertrud«, flüsterte er ihr scharf zu. »Du wirst alles mit mir machen und mit mir teilen, hast du verstanden?«
»Ja, habe ich.«
»Sehr gut.«
»Aber das kann ich nicht?«
Erneut schaute er sie nur an. Es gab einen Ausdruck in diesen Augen, denen Gertrud nicht entrinnen konnte. Doch die Gedanken waren plötzlich bei ihrer Tochter. Sie erinnerte sich daran, dass Hanna den Roten Tod gesehen hatte.
Sofort baute sich darauf eine Frage auf. Hatte sie ihn auch erkannt? Wusste das Kind, dass sein Vater ein Mörder war? Wenn ja, wie konnte sie dann mit diesem Wissen leben.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, Nägel geschluckt zu haben. Im Magen breitete sich ein Brennen aus, sie wollte etwas sagen, was ein Säureschuss verhinderte, der hoch in ihre Kehle stieg.
»Warum kannst du das nicht, Gertrud?« Die Stimme klang flach, doch der drohende Unterton war nicht zu überhören.
»Ich... ich... bin dafür einfach nicht geschaffen«, gab sie flüsternd zurück.
»Du wirst es müssen. Wenn nicht, setzt du damit das Leben unserer Tochter aufs Spiel.«
Die Worte, die so lässig dahingesagt worden waren, empfand sie wie einen Tiefschlag, es war
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