Der Rote Wolf
um, denn sie wusste, das Gerede würde irgendwann ein Ende haben.
Wer lange genug am Ufer des Flusses sitzen bleibt, sieht mit der Zeit die meisten seiner Feinde vorbeitreiben.
Schon bald würde sich niemand mehr an die Mörderin im Tunnel erinnern, und sie würde nur eine unter vielen im Brunnen sein, eine grauschwarze Flocke, die sacht und von niemandem bemerkt zum Schlamm am Grund des Schachtes sank.
Sie blieb vor der gläsernen Eingangstür von Hausnummer 16 stehen, einem der diskreten Eingänge des Regierungssitzes. Alle Fensterfutter waren aus matt gebürstetem Kupfer, und hinter einer großen glänzenden Glasfront und gepflegten Palmen in Töpfen war eine Empfangsloge aus Panzerglas zu erkennen, in der ein uniformierter Wachmann saß.
Annika schob zwei Türen auf, ging mit dem Gefühl, ein schändlicher Eindringling zu sein, zu dem Wachmann und klopfte gegen das Mikrofon vor der geschlossenen Luke.
»Es funktioniert«, meinte der ältere Mann, der hinter der Glasscheibe saß. Sie sah, dass seine Lippen sich bewegten, und hörte seine Stimme aus einem versteckten Lautsprecher zu ihrer Linken.
»Dann ist ja gut«, sagte Annika, versuchte zu lächeln und beugte sich zum Mikrofon vor. »Ich möchte Karina Björnlunds Post durchsehen.«
Jetzt war sie mit der Sprache herausgerückt, ein Spion ist gekommen, die Frau, die in Abfällen und Mailboxen wühlt.
Der Mann griff nach einem Telefonhörer und drückte ein paar Tasten.
»Setzen Sie sich bitte, ich werde den Registrator anrufen.«
Sie ging zu dem kleinen Vestibül, in dem drei geschwungene backsteinrote Sofas standen, eine EU-Flagge und eine schwedische, ein Ständer mit jeder Menge Broschüren und eine Metallstatue, die ein kleines Kind darstellte, ein Mädchen vielleicht.
Sie blieb stehen und sah sich die Statue an. War sie aus Bronze?
Sie trat einen Schritt näher. Wer war sie? Wie viele neugierige Spione hatte sie kommen und gehen sehen?
»Entschuldigung? Waren Sie das, die den Briefverkehr der Ministerin durchsehen wollte?«
Annika sah auf und begegnete dem Blick eines Mannes mittleren Alters mit Pferdeschwanz und langen Koteletten.
»Ja, genau«, sagte sie. »Das war ich.«
Sie gingen an zwei verschlossenen Türen und einem Korridor vorbei und nahmen dann den Aufzug in den sechsten Stock.
»Nach links und dann die Treppe hinunter«, sagte der Mann. »Hier ist mein Büro. Was genau möchten Sie denn sehen?«
»Alles«, sagte Annika, zog ihre Jacke aus, beschloss, bei ihrer Spionagetätigkeit gründlich vorzugehen, und ließ Tasche und Mantel auf einen Besuchersessel fallen.
»Okay«, sagte der Mann und klickte ein Programm an. »Karina Björnlund hat 668 Sachthemen bearbeitet, seit sie vor fast zehn Jahren Ministerin geworden ist, ich habe hier das vollständige Register vor mir.«
»Könnten Sie mir das ausdrucken?«
»Von diesem Jahr?«
»Alles.«
Der Registratur verzog keine Miene und setzte seinen Drucker in Gang.
Sie sah sich den Computerausdruck an, Registrierungsdatum und -nummer, Eingangsdatum, Dokumentdatum. Dann der Name des Sachbearbeiters, der sich um das Schriftstück gekümmert hatte, Name und Adresse des Verfassers der Eingabe, eine Beschreibung des Themas und schließlich Angaben darüber, was aus der Sache geworden war.
Beschluss, las sie, ad acta.
»Was bedeutet ad acta?«, fragte sie.
»Dass keine Antwort verfasst wurde«, erklärte der Mann mit dem Pferdeschwanz. »Archiviert ohne Maßnahme. Dabei kann es sich um ermunternde oder auch wirre Briefe von einem unserer häufiger wiederkehrenden Absender handeln.«
Sie sortierte die Zeilen nach der Art des Themas: eine Einladung zu den Filmfestspielen in Cannes, eine Bitte um ein signiertes Foto, der Aufruf, einen bedrohten Verlag zu retten, fünf Fragen von Klasse 8B in Sigtuna, die Einladung zum Nobelbankett im Stockholmer Rathaus am 10. Dezember.
»Wo befinden sich diese Briefe und Mails?«
»Die Sachen, die Sie sich gerade anschauen, sind jüngeren Datums, also dürften sie noch bei den einzelnen Sachbearbeitern liegen.«
Sie nahm die zweite Seite in Empfang, und ihr Blick fiel auf den obersten Posten.
Stellungnahme des Verbands der schwedischen Zeitungsverleger zu den Veränderungen im Senderecht für digitales Fernsehen.
Anne Snapphanes Sender, dachte sie.
»Könnte ich mir das hier bitte mal ansehen?«
Der Archivar richtete sich auf, warf einen Blick auf den Ausdruck, den sie ihm hinhielt, und rückte seine Brille zurecht.
»Dazu müssen Sie sich mit
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