Der Rote Wolf
verstehe deine Frustration«, sagte sie und schielte zu Annika hinüber, als sie das Glas abstellte. »Nicht einmal ich erinnere mich an Paula aus der Popfabrik.«
Annika stocherte in den Biskuits, schob mit dem Zeigefinger ein paar klebrige Krümel hin und her und überlegte, ob sie einen Bissen herunterbekommen würde, gab jedoch auf, ließ sich gegen die Rückenlehne fallen und schloss die Augen.
»Ich muss mich entscheiden, an welcher Front ich kämpfen will«, sagte sie, »sonst schaffe ich das alles nicht. Jetzt zu Schyman zu gehen und Krach zu schlagen hieße, sich selbst in den Fuß zu schießen, nein danke.«
Anne nickte, drehte das Glas, musterte die Farbe.
»Das nennt man clever Prioritäten setzen«, meinte sie.
»Ich kann nicht alles gleichzeitig machen«, sagte Annika und breitete die Hände aus. »Sich um einen Haushalt zu kümmern und die Kinder, zu waschen und aufzuräumen ist keine Kunst, achtzehn Stunden am Tag zu arbeiten ist auch keine Sache, aber ich kann nicht beides gleichzeitig machen. Das ist mein Problem.«
»Meinen Job würdest du jedenfalls nicht mit Kusshand haben wollen, das verspreche ich dir«, erwiderte Anne.
Schweigend saßen sie eine Weile zusammen und lauschten den Geräuschen der Stadt, die sie umgaben.
»Ich will nur schnell die Nachrichten sehen«, sagte Annika schließlich und schnappte sich die Fernbedienung.
Der Fernseher ging an, und Anne Snapphane erstarrte.
»Mehmets neue Monogame ist Redakteurin in der Nachrichtenredaktion«, sagte sie.
Annika nickte, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
»Hast du erzählt«, sagte sie. »Lass uns mal hören.«
Sie stellte den Ton lauter. Uber dem pulsierenden Intro leierte der Sprecher die Schlagzeilen herunter: »Möglicherweise Ermordung eines Journalisten in Lulea, Stellenabbau bei Ericsson, 4000 Arbeitsplätze fallen weg, neues Bibliotheksgesetz Bestandteil des neuen Kulturhaushalts. Guten Abend, meine Damen und Herren, zunächst aber ein Bericht aus dem Nahen Osten, wo ein Selbstmordattentäter heute Abend zehn Jugendliche vor einem Cafe in Tel Aviv mit in den Tod gerissen hat …«
Annika stellte leiser, bis nur noch ein diffuses Murmeln zu hören war.
»Glaubst du, es ist was Ernstes zwischen Mehmet und ihr?« Anne nahm noch einen Schluck Wein.
»Mittlerweile holt sie schon Miranda im Kindergarten ab«, sagte sie, und ihre Stimme klang erstickt und fremd.
Annika versuchte sich vorzustellen, wie sie das fände.
»Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, wenn eine andere Frau sich um meine Kinder kümmern würde«, sagte sie.
Anne verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.«
»Möchtest du noch mehr Kinder haben?«
Annika hörte selbst, wie viel in dieser Frage lag, so als hätte sie Anlauf nehmen müssen, um sie stellen zu können. Anne blickte erstaunt auf und schüttelte den Kopf.
»Ich möchte ein Individuum sein, keine Funktion«, antwortete sie.
Annika hob die Augenbrauen.
»Aber darum geht es doch gerade bei Kindern«, sagte sie. »Man geht in etwas anderem auf als in seiner normalen menschlichen Erbärmlichkeit und wird Teil von etwas Größerem. Freiwillig für einen anderen Menschen seine Freiheit aufzugeben ist etwas, das es sonst nirgendwo in unserer Gesellschaft gibt.«
»So habe ich das noch nie gesehen«, erwiderte Anne und trank. »Aber jetzt, wo du es sagst, war das wohl tatsächlich einer der Gründe dafür, warum ich mit Mehmet nicht zusammenleben wollte. Mit meinen Gedanken in Ruhe gelassen zu werden ist für mich das Allerwichtigste, sonst würde ich völlig verrückt.«
Annika wusste, dass Anne glaubte, sie habe ihre Beziehung zu Mehmet niemals wirklich verstanden und nicht begriffen, wie gut sie funktionierte, bis sie dann plötzlich in die Brüche ging.
»Man wird doch nicht wahrer, nur weil man ein Egoist ist«, sagte Annika und wunderte sich selbst über die Härte ihrer Worte. »Ich meine, es gibt doch eine ganze Reihe von Dingen, denen man tagtäglich mehr Raum zubilligt als sich selbst. Nicht nur den Kindern, sondern auch der Arbeit oder dem Sport oder was auch immer. Wie viele können sich denn schon bei ihrer Arbeit individuell verwirklichen, und wie viel Annika Bengtzon wäre ich, wenn ich Stürmer in der Eishockey-Nationalmannschaft wäre?«
»Ich wusste doch, dass es einen Grund gibt, warum ich Mannschaftssportarten so hasse«, murmelte Anne.
»Jetzt mal ganz im Ernst«, sagte Annika und beugte sich vor. »Teil eines größeren
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