Der Rote Wolf
das Wichtigste für einen Menschen, haben Sie das nicht einmal gesagt? Noch dazu im Fernsehen? In einer Doku-Soap mitzuwirken, die gefilmt und rund um die Uhr im Internet übertragen wird, heißt, von Gott gesehen zu werden, und zwar die ganze Zeit.«
»Und wer ist Gott?«, sagte Annika. »Das Kameraobjektiv?«
»Aber nein«, erwiderte Schyman. »Die Fernsehzuschauer. Wann hatte einer von uns zuletzt die Chance, Gott zu sein?«
»Sie sind doch tagtäglich Gott, zumindest bei dieser Zeitung«, sagte Annika.
»Ebenso selbstherrlich, ungerecht und mit schlechtem Urteilsvermögen begabt wie der richtige Gott bei Kain und Abel.«
Jetzt verschlug es Schyman die Sprache. Annika hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen.
»Es hat mich sehr gekränkt, dass mein Journalistenmord von der Titelseite geworfen wurde«, sagte sie rasch in dem Versuch, das Thema zu wechseln.
Er schnaubte, schüttelte den Kopf und ging zum Fenster.
»Ihr Journalist war nicht bekannt«, erläuterte Anders Schyman, an das Fenster gewandt. »Außerdem war die Verbindung zum Terrorismus verdammt vage.«
»Und wie prominent ist Paula Popfabrik?«
»Paula wurde bei der Endausscheidung im Frühjahr Zweite und hat eine Single aufgenommen, die in den Hitlisten bis auf Platz sieben geklettert ist. Sie hat Anzeige erstattet und ist bereit, uns mit ihrem Namen und einem Bild, das sie in Tränen aufgelöst zeigt, zur Verfügung zu stehen«, sagte Anders Schyman, ohne dabei auch nur im Mindesten verlegen zu wirken.
Annika machte zwei Schritte auf seinen Rücken zu.
»Und warum tut sie das? Wahrscheinlich, weil sie aus der Hitliste geflogen ist.
Sollten wir es uns nicht sehr genau überlegen, bevor wir uns vor den Karren dieser Möchtegernprominenten spannen lassen? Wen beschuldigt sie eigentlich?«
»Wenn Sie von Ihrem Prinzip abrücken würden, nichts über Prominente aus Doku-Soaps zu lesen, hätten sie durchaus eine Chance, es zu wissen«, sagte er und drehte sich um. Er versuchte scherzhaft zu wirken.
»Ich habe mich nur gefragt, ob wir den Typen auch mit Bild und Namen präsentieren werden?«, sagte sie und merkte, dass ihre Stimme mittlerweile zitterte. »Ich bin nur neugierig, wie tief wir inzwischen gesunken sind.«
Das Gesicht des Chefredakteurs fiel im Licht der Abenddämmerung in sich zusammen.
»Highlander von TV Plus hat dafür gesorgt, dass Bewerber für Doku-Soaps systematisch sexuell ausgenutzt werden«, sagte er tonlos, »das schreiben wir nicht, jedenfalls noch nicht, aber wir arbeiten daran.«
Er schlug die Hände übers Gesicht.
»Wissen Sie, Annika«, sagte er, »ich habe einfach keine Lust, darüber mit Ihnen zu streiten. Ich brauche Ihnen hier nicht Rede und Antwort für die Entscheidungen zu stehen, die diese Zeitung vor dem Aus bewahren.«
»Warum tun Sie es dann?«
»Was?«
Den Tränen nah, sammelte sie ihre Unterlagen ein.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, arbeite ich weiter an der Sache«, erklärte sie.
»Aber mir ist durchaus bewusst, dass Sie Prioritäten setzen müssen. Wenn Ozzy Osbourne wieder einmal ein T-Bone-Steak über den Zaun zum Nachbarn wirft, weiß ich sehr wohl, dass ich keine Chance habe, dagegen anzukommen.«
Sie verließ den Raum, bevor er ihre Tränen der Wut sehen konnte.
Sie saßen mit einem Glas Wein vor dem Fernseher. Annika starrte das flimmernde Bild an, ohne etwas zu sehen. Die Kinder schliefen, die Spülmaschine rauschte in der Küche, und im Flur wartete der Staubsauger auf sie. Sie war wie gelähmt und starrte einen Mann an, der im Foyer eines Hotels auf und ab ging. Der Tag und die ganze Woche gingen ihr durch den Kopf, sie fühlte sich erbärmlich.
Der Junge, Linus, der mit seinen abstehenden Haaren so hübsch gewesen war, so empfindsam und wachsam. Wenn sie die Augen schloss, sah sie seine intelligenten, aufmerksamen Augen. Schymans trockene Stimme hallte in ihrem Kopf wider: Ihr Journalist war nicht bekannt, ich brauche Ihnen nicht Rede und Antwort zu stehen.
Thomas lachte plötzlich laut und herzlich auf, und Annika zuckte zusammen.
»Was ist los?«
»Er ist so unglaublich witzig.« »Wer?«
Ihr Mann sah sie an, als wäre sie ein wenig dämlich.
»John Cleese natürlich«, sagte er und wedelte mit der Hand in Richtung Fernseher. »Fawlty Towers.«
Sein Blick wandte sich wieder dem Fernsehapparat zu, er lehnte sich vor und trank einen Schluck Wein, probierte ihn nachdenklich.
»Ach, übrigens, sag mal«, meinte er anschließend, »hast du meinen Villa Puccini
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