Der Rote Wolf
ihr direkt ins Gesicht. Wann immer sie abbog, schien auch das Schneetreiben die Richtung zu wechseln. Wie üblich verfluchte sie ihre dämliche Nachgiebigkeit.
Als Mehmet damals vorgeschlagen hatte, Miranda in der Nähe seiner Wohnung in den Kindergarten gehen zu lassen, hatte sie zugestimmt. Er hatte damals im Gegensatz zu ihr einen dauerhaften Wohnsitz ge habt, weshalb ihr die Entscheidung ganz logisch erschien. Vier Jahre und 18000
Reisestunden später lagen die Dinge jedoch anders.
Mirandas Kindergarten lag ausgesprochen idyllisch in einem Innenhof an einer der ruhigsten und nobelsten Straßen des vornehmen Stadtteils Östermalm. Fast alle Kinder hier trugen adlige Namen oder neureiche, angenommene Namenskonstruktionen vom Typ Silfverbielke.
Nun ja, ein Zwillingspaar hieß tatsächlich Andersson, aber das waren zufällig die Töchter von Schwedens beliebtester Filmschauspielerin.
Als sie um die letzte Straßenecke bog, wurde ihr Gesicht von kleinen Eisstückchen getroffen, und sie hätte am liebsten aufgegeben. Sie blieb stehen, um durchzuatmen, blinzelte, sah wenige Meter vor sich den Eingang und lehnte sich für einen Moment an die nächste Hauswand.
Sie wusste nur zu gut, dass es weder Wind noch Schnee waren, die sie fast umbrachten, und es war auch keine bislang unentdeckt gebliebene Krankheit, die man dann nach ihr benennen würde.
Es war die Arbeit oder vielmehr der lodernde Scheiterhaufen aus Machtkämpfen, den die Besitzer ihrer Firma entfacht hatten, als sie TV Scandinavia ins Leben riefen.
Heute hatte die Eignerfamilie, die den größten Filmverleih Skandinaviens kontrollierte und der im Übrigen auch Annikas verdammtes Käseblatt gehörte, alle Verhandlungen sabotiert, die sie mit internationalen und einheimischen Filmproduktionsgesellschaften geführt hatten. Die mündlich getroffenen Vereinbarungen, die der Präsentation von TV Scandinavia zugrunde gelegen hatten, waren seit neun Uhr morgens eine nach der anderen für null und nichtig erklärt worden. Die Eignerfamilie hatte am Wochenende offenbar hart gearbeitet und jede einzelne unabhängige Filmgesellschaft nördlich des Äquators in Angst und Schrecken versetzt.
Ich frage mich, wie das alles weitergehen soll, dachte Anne Snapphane und schloss die Augen. Wird dieser Fernsehsender auf einem Sumpf errichtet?
Sie sehnte sich unendlich nach Alkohol, nach einem großen Glas Wodka mit Zitrone und Eis, sie wollte das Gefühl von Watte im Gehirn und immer weicheren Gliedern.
Aber nicht, wenn Miranda da ist, dachte sie und hatte Annikas Gesicht vor Augen, wenn sie von der Trunksucht ihres Vaters erzählte, der sich immer wieder unmöglich gemacht, sich hingelegt und geschrien hatte und schließlich wenige hundert Meter vom Stahlwerk in Hälleforsnäs entfernt hilf- und leblos in einer Schneewehe gefunden worden war.
Niemals, dachte sie, stemmte sich gegen den Wind und strebte dem Eingang der Kindertagesstätte zu.
Als sie mit Mühe die Tür aufbekommen hatte, schlug ihr der schwere Geruch von kleinen Kindern und nassen Schneeanzügen entgegen. Der Vorraum war ein braunes Meer aus Lehm und wurde von der forschen Aufforderung »Also los, hier ziehen alle die Schuhe aus!« auf einem bunten Schild neben dem Schuhregal geschmückt.
Anne Snapphane putzte sich die Schuhe ab, doch der Zustand der Türmatte verriet ihr, dass es nicht viel nützen würde. Anschließend betrat sie auf Zehenspitzen den Flur des Kindergartens, in dem all die kleinen blauen Blechregale, in denen jedes der Kinder sein eigenes Fach hatte, mit Kinderklamotten und Kuscheltieren, Zeichnungen und Bildern aus dem Urlaub oder von Geburtstagen und Weihnachtsfesten überfüllt waren.
Sie hatte schon Luft geholt, um leise ihre Tochter zu rufen, als sie im Türrahmen zur Küche die Frau erblickte.
Groß, schlank, lange rötliche Haare, die in sanften Locken über eine Schulter fielen. Palästinensertuch.
Anne traute ihren Augen nicht.
Das war ja nun wirklich sagenhaft hinterwäldlerisch, diese Frau trug tatsächlich einen Palästinenserfeudel.
Die Frau erstarrte, als sie Anne sah, und in ihren Blick mischte sich leichte Panik.
»Ich …«, sagte sie, als sie sich gefasst hatte, »ich heiße Sylvia, ich bin Sylvia.«
Sie trat näher und streckte die Hand aus.
Anne Snapphane starrte die Frau an, und es wurde ihr schlecht. Sie konnte einfach nicht die Hand heben und den Gruß erwidern.
»Was machen Sie denn hier?«, sagte sie stattdessen und hörte ihre Stimme wie aus weiter
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