Der Rote Wolf
auf und hob den Teller wieder auf, der heil geblieben war, und die Esssensreste, die weniger gut aussahen.
»Die Schöne und das Biest!«, sagte Kalle und sprang von seinem Stuhl auf.
»Nein!«, sagte Annika und merkte, dass sie fast schon gebrüllt hatte. »Den nicht!«
Die Kinder sahen sie mit großen Augen an.
»Aber den haben wir doch von Oma bekommen«, meinte Kalle. »Magst du die Schöne denn nicht?«
Sie schluckte den Stress hinunter und ging vor den Kindern in die Hocke.
»Die Schöne und das Biest ist ein richtig schlechter Film«, sagte sie. »Er belügt uns. Das Biest nimmt die Schöne und ihren Papa gefangen, er quält sie beide, kidnappt sie und sperrt sie ein, findet ihr das etwa nett?«
Beide Kinder schüttelten wortlos den Kopf.
»Eben«, sagte Annika. »Trotzdem muss die Schöne das Biest lieben, denn wenn sie es nur fest genug liebt, wird sie es retten.«
»Aber es ist doch toll, dass sie es rettet«, sagte Kalle.
»Aber warum sollte sie das tun?«, meinte Annika. »Warum soll sie das Biest retten, das sie nur gequält hat und gemein zu ihr gewesen ist?«
»Aber wenn es am Ende doch nett wird?«, fragte Kalle, und seine Unterlippe zitterte ein wenig.
Sie sah die Verwirrung ihres Sohnes und Ellens verständnislosen Blick, streckte sich zu Kalle und nahm ihn in den Arm.
»Du bist lieb und gutmütig«, flüsterte sie ihm zu. »Deshalb kannst du dir nicht vorstellen, dass Menschen auch böse sein können. Aber es gibt böse Menschen, und die kann man nicht mit Liebe heilen.«
Sie strich ihm übers Haar und küsste ihn auf die Wange. »Ihr dürft Mio, mein Mio sehen.«
»Der ist aber so gruselig«, sagte Ellen. »Dann musst du dabei sein.«
»Und was ist mit Pippi?« »Jaa!«
Ungefähr dreißig Sekunden nachdem sie die Play-Taste des Videorekorders betätigt hatte, ertönte ein Klingeln aus den Tiefen ihrer Tasche. Sie lief damit ins Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich und kippte den Inhalt der Tasche auf das ungemachte Bett. Die Handyschnur hatte sich in der Spirale eines ihrer Blöcke verfangen. Es war Q.
»Ich habe mir die Zitate angesehen, von denen Sie gesprochen haben.«
Sie suchte den richtigen Block und einen Stift heraus. »Und?«, fragte sie, setzte sich auf den Fußboden und lehnte sich ans Bett.
»Verdammt seltsame Übereinstimmung«, meinte er. »Etwas zu seltsam, als dass wir an einen Zufall glauben könnten.«
»Liegt Ihnen sonst noch etwas vor, das alle drei Mordfalle verbindet?«
Er seufzte schwer.
»Wir wissen vorläufig noch viel zu wenig, aber es gibt jedenfalls keinerlei Übereinstimmungen, was die Vorgehensweise des Täters angeht. Die Morde sind auf völlig verschiedene Art verübt worden. Wir haben einige Stofffasern an den Opfern gefunden, aber sie stimmen nicht überein. Fingerabdrücke gibt es auch keine.«
»Nur die Briefe?«
»Nur die Briefe.«
»Und welche Schlussfolgerungen wagen Sie zu ziehen?« Er seufzte erneut.
»Der Mann aus Östhammar wurde ermordet, so viel steht jedenfalls fest. Er ist aus mindestens einem Meter Entfernung erschossen worden, und es ist ziemlich schwierig, eine AK 4 so weit von sich wegzuhalten und gleichzeitig abzudrücken. Es gibt natürlich eine Verbindung zwischen dem Jungen und dem Journalisten, aber zu dem Politiker haben wir noch keine entdecken können. Der Junge hat immerhin gesehen, wie der Zeitungsfritze zermalmt wurde, damit haben wir ein klassisches Motiv. Er hätte den Mörder möglicherweise identifizieren können.«
»Oder aber er kannte den Mörder«, sagte Annika.
Der Kommissar schwieg einen Moment lang verblüfft.
»Warum sagen Sie das?«
Sie schüttelte den Kopf und starrte auf die Tapete.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es war nur so ein Gefühl, das mich beschlich, als ich ihn fragte, ob er ihn erkannt hatte. Er bekam eine Heidenangst und warf mich raus.«
»Ich habe die Vernehmungsprotokolle aus Lulea gelesen. Da sagt er nichts davon, dass er Angst hat.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Annika. »Er wollte sich selbst schützen.«
Der Kommissar schwieg skeptisch.
»Sie glauben, dass der Junge den Mörder nicht gekannt haben konnte, weil Sie denken, dass Ragnwald der Täter ist«, sagte Annika.
Die Tür flog auf, und Ellen kam ins Schlafzimmer.
»Mama, er nimmt sich einfach die Fernbedienung und sagt, dass ich sie nicht haben darf.«
»Einen Moment, bitte«, sagte sie, legte das Handy ab, stand auf und folgte Ellen zum Fernseher.
Kalle saß in einer Ecke der Couch und hatte die
Weitere Kostenlose Bücher