Der Rote Wolf
sie etwas sagen konnte.
Sie stand auf, versuchte Leben in ihre Beine zu schütteln und fühlte sich seltsam unwohl in ihrer Haut. Mit angespannten Schritten folgte sie Schymans breitem Kreuz über wankenden Boden in sein Büro, fühlte sich gestresst von seiner kurz angebundenen, eiligen Art, setzte sich in einen Besuchersessel und breitete ihre Notizen auf einem Diagramm aus, das seinen Schreibtisch bedeckte.
Der Chefredakteur kehrte langsam zu seinem Platz zurück und lehnte sich nach hinten.
»Sie wollen also nicht vom Thema Terrorismus lassen«, stellte er fest und faltete die Hände vor dem Bauch.
»Ich habe einige Informationen zusammengetragen, die recht kontrovers sein könnten«, sagte Annika, starrte auf ihren Notizblock und entdeckte, dass sie die falsche Seite aufgeschlagen hatte. Hastig riss sie die Notizen an sich und suchte fieberhaft nach der Zusammenfassung, die sie vorbereitet hatte. Schyman seufzte.
»Erzählen Sie es mir doch lieber einfach«, sagte er. Annika ließ den Block auf den Schoß sinken und kämpfte gegen das Gefühl an zu fallen.
»Der Terrorist heißt Göran Nilsson«, sagte sie. »Geboren 1948 in Sattajärvi im Tornedal, sein Vater war laestadianischer Geistlicher.«
Sie griff wieder nach ihrem Block und blätterte.
»Als Neunzehnjähriger zog er nach Uppsala, um Theologie zu studieren, stieß
dort im Frühjahr 1968 zur so genannten Rebellenbewegung und wurde Maoist.
Er schloss sein Studium nicht ab, sondern zog wieder nach Nordschweden zurück und arbeitete bei der Kirche. Den maoistischen Splittergruppen in Lulea trat er unter dem Decknamen Ragnwald bei und muss sich gleichzeitig immer mehr von seinem Glauben entfernt haben, denn als er heiraten wollte, kam eine kirchliche Trauung offenbar nicht in Betracht. Er war auf die eine oder andere Art in den Anschlag auf F21 verwickelt, auch wenn sich die Polizei nicht sicher ist, dass er den Anschlag selbst verübt hat. Am Mittwoch, dem 18. November 1969, verschwand er aus Schweden. Seither ist er im Land nicht mehr gesehen worden. Seine Hochzeit, die für den 20. November 1969 im Rathaus von Lulea aufgeboten war, also zwei Tage nach dem Anschlag, wurde abgesagt.«
Schyman nickte bedächtig.
»Und dann fuhr er nach Spanien und wurde Profikiller für die ETA«, ergänzte er und schielte auf die Zeitung, die auf einem der Beistelltische lag.
Annika hob die Hand.
»Wirklich interessant ist die Sache mit F21«, meinte sie. »Sagten Sie nicht, die Polizei gehe davon aus, dass er es nicht war?«
Sie nickte.
»Und wer hat dann das Flugzeug hochgehen lassen?«, fragte Anders Schyman neutral und regungslos.
Sie schwieg ein paar Sekunden, ehe sie weitersprach.
»Karina Björnlund«, antwortete sie dann. »Die Kultusministerin.«
Der Chefredakteur verzog keine Miene. Seine Hände lagen wie zuvor gefaltet auf den Hemdknöpfen, seine Körperhaltung veränderte sich nicht, die Augen bewegten sich nicht, aber die Luft im Raum war auf einmal stickig geworden.
»Ich nehme an«, meinte Schyman nach einer Weile, »dass Sie für einen solchen Vorwurf verdammt gute Argumente haben.«
Annika versuchte zu lachen, brachte aber nur ein trockenes Schnauben zustande.
»Eigentlich nicht«, sagte sie, »aber die Ministerin ist tatsächlich die Person, die am ehesten als Täter in Frage kommt.«
Schyman lehnte sich abrupt nach vorn, stand auf und machte ein paar Schritte in den Raum, ohne Annika anzusehen.
»Ich weiß nicht, ob ich mir das anhören will«, sagte er.
Annika war im Begriff, ebenfalls aufzustehen, um ihm zu folgen, hatte jedoch das Gefühl, der ganze Raum würde schwanken, und ließ sich wieder zurückfallen. Sie nahm ihre Notizen in die Hand.
»Am Tatort hat man Fußspuren der Schuhgröße 36 gefunden«, sagte sie. »Sie müssen entweder von einem Kind oder einer kleinen Frau stammen, und von den beiden Alternativen erscheint eine erwachsene Frau mit kleinen Füßen am wahrscheinlichsten. Frauen werden fast nie zu Terroristinnen, es sei denn, zusammen mit ihren Männern. Ragnwald plante die Sache, seine Verlobte führte sie aus.«
Schyman unterbrach seine rastlose Wanderung und drehte sich, die Hände in die Seiten gestemmt, zu ihr um. »Verlobte?«
»Der Gemeindeassistent Göran Nilsson aus Sattajärvi und Karina Björnlund aus Karlsvik in der Kirchengemeinde NiederLulea wollten heiraten. Ich habe alle Göran Nilssons und Karina Björn lunds im staatlichen Personen- und Adressregister überprüft, und nur die beiden kommen
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