Der rote Würfel
mongolischen Horden, der japanischen Shogun. Doch all deren Foltermethoden erschienen mir harmlos im Vergleich zu den Schmerzen, die die Kirche verursachte. Denn die Leute, die Scheiterhaufen anzündeten, trugen Kreuze. Sie murmelten Gebete vor sich hin, während ihre Opfer schrien und starben. Ich schaute mir nur wenige Hinrichtungen an. Sie waren mir sehr bald zuwider. Auf meine eigene Art und Weise durchkreuzte ich daraufhin hier und da die Pläne der Inquisition, indem ich viele der Inquisitoren heimlich umbrachte. Ihre Leichen ließ ich für gewöhnlich an kompromittierenden Orten zurück – Bordellen und so weiter –, um genaueren Untersuchungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Während ich den Inquisitoren das Blut aus der Halsschlagader saugte, flüsterte ich ihnen ins Ohr, ich sei ein Gnadenengel. Keiner von ihnen starb bei mir einen leichten Tod.
Die Kirche war natürlich stärker als ein einzelner Vampir und die Inquisition eine Krankheit, die sich durch ihren bizarren Wahn sprunghaft ausweitete. Man konnte ihr nicht einfach aus dem Weg gehen. Sie warf einen Schatten auf mein Leben in Florenz, über meine Freude am Wiederaufleben menschlicher Schöpferkraft. Ich habe die Menschen immer wieder gejagt, bin aber doch auch stolz auf sie, wenn sie etwas Kühnes hervorbringen, etwas Unerwartetes. Die größte Kunst entsteht immer unaufgefordert.
Arturo Evola war nicht als Alchemist bekannt, sonst hätte er keinen einzigen Tag überlebt im Florenz des Mittelalters. Er war ein einundzwanzigjähriger Franziskanermönch, und zwar ein frommer. Mit sechzehn war er in die Priesterschaft eingetreten, was zu jener Zeit gar nicht ungewöhnlich war; wer Geistlicher wurde, konnte am ehesten in den Genuß weit überdurchschnittlicher Bildung kommen. Er war ein hervorragender Mann, zweifellos der am stärksten inspirierte Geist des dreizehnten Jahrhunderts. Doch die Geschichte kennt ihn nicht. Nur ich allein kenne ihn noch, und meine Erinnerung an ihn ist von Leid getrübt.
Ich begegnete ihm eines Tages nach der Messe. Ich verabscheute die Kirche, fand aber Gefallen am eigentlichen Gottesdienst. All diese Gesänge und Chöre und auch die ersten Orgeln sagten mir sehr zu. Oft ging ich zur Kommunion, nachdem ich die Beichte abgelegt hatte. Es fiel mir nicht leicht, ernst zu bleiben, wenn ich meine Sünden beichtete. Aus Spaß berichtete ich einmal einem Priester alles, was ich in meinem Leben angestellt hatte. Doch er war betrunken und wies mich nur an, fünf Ave Maria zu beten und mich zu benehmen. Ich brauchte ihn nicht zu töten.
Ich empfing das heilige Abendmahl von Arturo und traf ihn nach dem Gottesdienst. Ich merkte, daß er sich von mir angezogen fühlte. Zu jener Zeit hielten sich viele Priester Geliebte. Ich hatte mich um Arturos Bekanntschaft bemüht, weil eine Heilerin – eine Zigeunerin – mir von ihm berichtet hatte. Er sei ein Alchemist, der Steine in Gold verwandeln könne, Sonnenlicht in Ideen, Mondschein in Wollust. Die Zigeunerin hielt viel auf Arturo. Sie wies mich an, mich ihm vorsichtig zu nähern, denn seine wahre Arbeit müsse der Kirche verborgen bleiben. Ich verstand.
Unter einem Alchemisten wird gemeinhin jemand verstanden, der versucht, aus unedlen Metallen Gold zu gewinnen. Das ist eine stark vereinfachende Definition. Tatsächlich ist Alchemie ein ausgedehntes physikalisches und metaphysisches System, das sowohl die Kosmologie als auch die Anthropologie umfaßt. Alles Natürliche und alles Übernatürliche hat Platz in ihm. Die Alchemie ist bestrebt, die Totalität des Organismus zu erfahren. Sie ist ein Weg der Erleuchtung. Die Zigeunerin meinte, Arturo sei der geborene Alchemist. Das Wissen käme bei ihm von innen heraus. Niemand brauche ihm in dieser Kunst etwas beizubringen.
»Sein einziges Problem besteht darin, daß er Katholik ist«, meinte sie. »Ein fanatischer.«
»Wie kann er beides denn miteinander vereinen?« wollte ich wissen.
Die Zigeunerin bekreuzigte sich. Auch sie war gläubig und abergläubisch zugleich. »Das weiß nur Gott allein«, sagte sie schließlich.
Als wir uns das erste Mal begegneten, schien mir Arturo alles andere als fanatisch. Sein Auftreten war so sanft wie seine hübschen Augen. Er konnte jemandem wirklich zuhören – eine seltene Gabe. Seine Hände waren groß und außergewöhnlich fein; als er mit den Fingern über meinen Arm streifte, spürte ich, daß er mein Herz zu berühren imstande war. Und er war noch so jung! An diesem ersten Nachmittag
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