Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
Begabung wurden ›Dai‹ genannt, was in ihrer Sprache so viel wie ›der Starke‹ bedeutet.« Dualar machteeine bedeutungsvolle Pause, bevor er fortfuhr. »Tenan, ich habe dich in den letzten Monaten genau beobachtet und weiß wahrscheinlich mehr über dich als du selbst. Ich dachte viel über dich und deine Erlebnisse nach, vieles war bruchstückhaft und mysteriös, es ergab keinen Sinn. Doch je länger ich mich bemühte, die Einzelteile des rätselhaften Mosaiks zusammenzusetzen, je mehr ich die jüngsten Geschehnisse mit den Begebenheiten aus alter Zeit in Verbindung setzte, desto klarer wurde das Bild. Natürlich habe ich nur Vermutungen, keine Beweise, aber nun scheint mir alles einen Sinn zu ergeben.«
Nervös nestelte Tenan am Saum seines Umhangs. Worauf wollte Dualar hinaus?
»Ich rief mir die Schilderungen deiner Begegnungen mit den Schatten und den Grauen Flüsterern in Erinnerung und studierte sie. Zunächst fiel mir auf, dass die Schatten auf dich nicht wie auf einen gewöhnlichen Menschen reagieren. Sie können dir keinen Schaden zufügen, viele von ihnen suchen im Gegenteil sogar deine Nähe. Du scheinst eine besondere Macht und Anziehung auf sie auszuüben, ja, es ist, als könntest du ihnen befehlen, wie einer aus dem Volk der Enim damals; du brauchst dafür noch nicht einmal einen der Kristalle von On. Weiterhin hast du die Gabe, aus eigener Kraft zwischen den Sphären zu wandern, auch wenn du noch keine Kontrolle über sie besitzt. Wenn ich all diese Dinge zusammennehme, kann ich nur zu dem einen Schluss kommen: Du entstammst dem Geschlecht der Enim und nicht nur das – du bist einer der Dai.«
Tenan war, als ob der Boden unter seinen Füßen schwankte, und er musste sich an einer der Zeltstangen festhalten. Schwer atmend sackte er auf seinem Hocker zusammen. Er schloss dieAugen und versuchte, in Einklang mit sich zu kommen, benötigte ein paar Augenblicke, um das, was Dualar gesagt hatte, zu begreifen. Als er tief in sein Inneres hineinhorchte, wusste er, dass der Hauptmann recht hatte. Nun endlich fügte sich ein Teil des Mosaiks zum anderen, und vieles in seinem Leben erschien in einem anderen, klareren Licht. Seine innere Gewissheit, zu etwas anderem als zum Comori berufen zu sein, sein Drang, Gondun zu verlassen, das seltsame Gefühl der Verbundenheit mit den Unai – all dies entsprang einer lange verborgenen Begabung und einer besonderen Bestimmung, die seit Anbeginn darauf warteten, von ihm entdeckt zu werden.
»Wenn dem so ist, muss ich mein Erbe endlich antreten«, flüsterte Tenan.
Dualar stimmte zu. »Allerdings. Die Schatten, die du auf deine Seite ziehen kannst, könnten uns im Kampf gegen ihre Brüder und Schwestern helfen. Du als einziger Sterblicher wärest fähig, Einfluss auf sie auszuüben. Ich werde dir erklären, wie du dabei vorgehen kannst.« Dualar lachte, als er Tenans entsetztes Gesicht sah. »Schau mich nicht so an, als würde ich dir eine Einladung vor Achests Thron überbringen.« Er winkte Tenan näher zu sich heran und senkte die Stimme. »Die Schatten könnten dir zu Diensten sein, wenn du sie richtig führst. Wie ich schon sagte, sind viele von ihnen nicht von Grund auf verdorben und dem Bösen verfallen. Es gibt einige, die sich gegen den Herrn der Schatten auflehnen und in ihm nicht mehr ihren Meister sehen. Zeige ihnen einen Weg, wie sie das Unheil, das sie bisher angerichtet haben, wieder gutmachen können, und sie werden treue Verbündete sein.«
Tenan schluckte. Was Dualar da vor ihm ausbreitete, klang verlockend und gefährlich zugleich. War es nicht ein Verrat an den Lehren der Dan, wenn er sich mit den Schatten einließ?Sollte er tatsächlich versuchen, die Wesen des Zwielichts zu seinen Gunsten einzusetzen? Ihn schauderte bei dem Gedanken. Allerdings, wenn Dualar recht hatte und er wirklich dem Volk der Enim entstammte, bestand tatsächlich eine – wenn auch geringe – Wahrscheinlichkeit, dass sich ihm einige der Unai im Kampf gegen den Bash-Arak anschlossen.
»Zeigt mir, wie ich in Verbindung mit ihnen treten kann«, sagte er zögerlich.
Dualar hob mahnend die Hände. »Tenan, auch wenn ich dir dieses Bündnis mit den Schatten selbst vorgeschlagen habe, muss ich dich warnen; du solltest dich nicht leichtfertig entscheiden. Dieser Weg steckt voller Gefahren, die noch gar nicht absehbar sind, nicht nur von Seiten der Unai, sondern auch aus deinem Inneren.«
Tenan stutzte. »Was meint Ihr damit?«
»Wärest du gefeit davor, die Macht der
Weitere Kostenlose Bücher