Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
spürte ihre stumme Pein, als sei sie seine eigene, als bestehe zwischen ihnen ein unsichtbares, untrennbares Band.
Immer wieder tauchten unerwartet Bilder und Visionen des Kristalls und der Schattenwesen vor seinem geistigen Auge auf, je stärker er sich bemühte, die quälenden Eindrücke loszuwerden, desto drängender wurden sie.
Eines Nachts, als er wieder einmal in seiner Koje lag, veränderte sich plötzlich etwas in seiner Wahrnehmung. Was er sah und hörte, kam ihm seltsam real vor, und ihm wurde schlagartig bewusst, dass es kein Traum war – diesmal nicht.
Tenans Geist schwebt im Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Er spürt das sanfte Schaukeln des Schiffs auf den Wellen, das auf tröstliche Weise beruhigend wirkt, nimmt die Gegenwart der vielen hundert Seeleute und Krieger wahr, die auf der Trasé und den anderen Schiffen ringsum in tiefem Schlummer in ihren Kojen und Hängematten liegen oder ihren Dienst an Deck tun. Überall ist es friedlich – doch es ist eine trügerische Ruhe. Die Wolken ziehen so niedrig über den Himmel, dass sie die Spitzen der Schiffsmasten streifen. Für einen kurzen Augenblick ist Tenan verwundert, dass er all diese Eindrücke wahrnehmen kann. Befindet er sich etwa außerhalb seines Körpers? Es wäre nicht seine erste Erfahrung dieser Art.
Eine tiefe Finsternis, die direkt aus der Unterwelt zu strömen scheint, lastet über dem Meer, sie verschluckt jedes Geräusch und taucht die See in Totenstille.
Inmitten dieser Schwärze zieht plötzlich ein rot glühender Lichtpunkt Tenans Aufmerksamkeit auf sich, der größer wird und zu einer Kugel anwächst, in deren Innerem sich Formen und Gestalten aus schwarzem Licht bewegen. Schattenwesen! Tenan erschrickt: Das rote Licht erinnert ihn in seiner Intensität und Farbe an den Meledos-Kristall – aber wie ist das möglich? Der Stein müsste sich auf dem Grund des Meeres oder in den Händen des Bash-Arak befinden! Der unheimliche Lichtschimmer strahlt jedoch unverkennbar aus dem Rumpf der großen Frachtgaleere zu Tenan herüber, die als letztes Schiff des Flottenverbandes segelt. Als ob das rote Glühen Tenans Anwesenheit wahrnimmt, verändert es seine Farbe plötzlich zu einem dunkleren Rot, aus welchem sich Bänder aus schwarzem Licht zu Händen und Armen herausbilden, die nach Tenan greifen; lidlose Augen starren ihm entgegen. Er weicht zurück, möchte fliehen, aber ein geheimnisvoller Bann hält ihn zurück. Auf dieser Ebene der Zwischenwelt kann er sich nicht bewegen und sich den stummen Blicken der Schattenwesen nicht entziehen. Ihre Hände und Arme recken sich nach ihm, wollen ihn berühren. Wie schon früher fühlt er eine unerklärliche Verbundenheit mit diesen Wesen, empfindet sogar Mitleid mit ihnen, doch dann überwältigt ihn die Angst. Er möchte nur weg von hier, den gierig greifenden Händen entkommen!
Das rote Leuchten schwebt wie ein Schleier aus Blut vor Tenans Augen. Immer wieder tauchen schattenhafte Gestalten darin auf, drehen und verrenken sich, strecken ihre Arme in seine Richtung, als flehten sie ihn um Hilfe an.
Ein Teil seines Bewusstseins nimmt wahr, wie sein Körper schlafend in der Kajüte liegt, während ein anderer Teil seines Geistes nun inmitten des Mannschaftsraums der fremden Galeere schwebt. Das stumme Flehen der Schatten ist so drängend, dass er sich ihnen schließlich zuwendet und versucht, mit ihnen zu sprechen. Sie starren ihn weiterhin aus leeren Augen an, unfähig, auch nur ein Wort von sich zu geben. Verhindert der Zauber des Kristalls den Kontakt zur Welt der Sterblichen?
Nach einer Weile weichen die Kreaturen zurück, dem uralten Zauberbann des Siegels der Finsternis gehorchend. Sie bedeuten Tenan mit den Händen, ihnen in die Grauen Sphären zu folgen, dann lösen sich ihre Konturen auf und sie verschmelzen wieder mit der Formlosigkeit, aus der sie stammen.
Tenan bleibt allein und nachdenklich zurück. Der Weg auf die Trasé steht ihm jederzeit offen, er kann umkehren und bei Amberon und Dualar Rat suchen, was zu tun sei. Doch was hätte er damit gewonnen? Eins ist gewiss: Die Schatten werden ihn immer wieder rufen, bis er ihnen in die Grauen Sphären folgt.
Noch immer leuchtet der rote Schimmer vor ihm, der den Weg in die Welt der Schatten weist.
Ihm kommt ein gewagter Gedanke: Was, wenn sich der Meledos tatsächlich in der Nähe befindet? Könnte er durch seine Macht womöglich in die Grauen Sphären gelangen, indem er den Stein als Weltentor benutzt?
Tenan bezwingt
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