Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
noch eine andere Macht!«, rief er in die Leere zwischen den Welten hinein. »Möge seine Magie erst wieder erwachen, wenn ich, der Herr der Schatten, es befehle! Har agath nim ial!« Er breitete die Arme aus und öffnete sein ganzes Wesen, um die Magie des Meledos tief in seinem Innersten aufzunehmen.
Kaum hatte er den letzten Zauberspruch gesprochen, da verebbte der brausende Sturmwind. Der Tunnel aus Nebel verschwand in einem gleißenden Blitz, und eine drückende Stille breitete sich über der Ebene aus. Der Bash-Arak sank entkräftet in sich zusammen; er hatte all seine verbliebene Magie für dieses Ritual eingesetzt, nun war er ausgelaugt und vollkommen erschöpft. All seine Energie, die er so mühsam aufgebaut hatte, war verbraucht. Ein zweites Mal würde er diesen gewaltigen Zauber nicht wirken können. Doch dieses Ritual war unabdingbar gewesen. Selbst ausgebildete Zauberer konnten den Stein nun nicht mehr im Gewebe der Magie entdecken, und niemand aus Algarad konnte sich noch Zutritt zu den Grauen Sphären verschaffen.
Mühsam richtete sich der Bash-Arak auf und starrte in die Leere, die sich zwischen den Pfeilern des Tores eröffnete. Grau waberte ihm der Nebel entgegen, der die Welten voneinander trennte. Irgendwo dort auf der anderen Seite lag der Kristall! Er konnte ihn nicht mehr spüren, denn der Meledos war nun nichts anderes als ein lebloser Stein ohne magische Kräfte. Aber das Verlangen des Bash-Arak, ihn endlich in seine Gewalt zu bringen, war unermesslich geworden.
26
Thut Thul Kanen drückte sich tiefer in die Dunkelheit der Kammer im Unterdeck der Galeere. Es gab wenige Plätze auf dem großen Schiff, an denen er allein sein konnte, und selbst hier unten bestand die Gefahr, dass er gestört wurde. Eine rußige Fackel draußen im Gang spendete schummriges Licht. Die Luft war feucht und stickig, aber wenigstens wärmer als oben an Deck, wo die Herbststürme tobten.
Er war beunruhigt. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Stein. Auf einmal leuchtete er nicht mehr! Wie war das möglich? War es nur ein vorübergehendes Phänomen? Bisher hatte er stets Mühe gehabt, das rote Leuchten vor den anderen Matrosen zu verbergen. Manchmal waren des Nachts geisterhafte Erscheinungen an den Wänden des Mannschaftsraums aufgetaucht, flüchtig und dennoch bedrohlich anzusehen, nun jedoch war das Feuer des Steins erloschen. Thut Thul Kanen musste herausfinden, was vor sich ging, auch wenn es gefährlich war.
Hastig zog er das zerlumpte Segeltuch beiseite. Schwer lag der Kristall in seiner Hand, glanzlos und stumpf. Tot! Das rote Leuchten, das ihn erfüllt hatte, die seltsamen Bänder aus schwarzem Licht, die schattenhaften Gestalten – all das war verschwunden, nicht einmal mehr ein schwacher Funke war in seinem Inneren zu sehen.
Seit er den Stein an sich gebracht hatte, hatte Thut Thul Kanen seine Macht gefürchtet, doch nun schien es, als hätten den Kristall alle seine Kräfte verlassen. Ungläubig starrte er auf die glatte Oberfläche und strich mit dem Finger darüber. Vor ihm lag nichts als ein geschliffener, handtellergroßer dunkelroter Kristall, in dem sich sein fassungsloses Gesicht spiegelte. Ein Edelstein wie jeder andere.
Was war geschehen? Weshalb hatte er so plötzlich all seine bedrohliche Macht verloren? Thut Thul Kanen wusste keine Antwort. Er stieß einen stummen Fluch aus. Ohne seine magische Macht war der Stein für ihn wertlos. Wenn die Dan-Ritter dies entdeckten, würden sie sich auf keine Verhandlungen mit ihm einlassen – sein gesamter Plan war gefährdet.
27
Nach seinem unheimlichen Erlebnis in den Grauen Sphären bat Tenan frühmorgens um eine Audienz bei Amberon und Dualar und erzählte ihnen von dem nächtlichen Vorfall. Sein Bericht kam ihm bizarr und unglaubwürdig vor, er schämte sich besonders für die dunklen Andeutungen zu seiner angeblichen Bestimmung als Erlöser der Schatten.
Seine Lehrmeister lauschten der Erzählung aufmerksam und tauschten besorgte Blicke aus. Sie schenkten dem nächtlichen Erlebnis offenbar mehr Gewicht als er selbst.
»Du hast heute Nacht aus eigener Kraft eine akralith, eine Seelenreise, unternommen«, meinte Dualar. »Normalerweise können das nur ausgebildete Dan-Ritter. Manche Menschen haben jedoch eine natürliche Begabung dafür. Sie wechseln im Zustand zwischen Wachen und Traum auf eine andere Ebene des Seins und können sich ohne Körper fortbewegen. Hast du mir nicht von deinem Erlebnis im Labyrinth bei den Grauen Flüsterern
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