Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
eigenmächtigen Handelns erhalten hatte, war Tenan stolz darauf, dass er auf diese Weise etwas zur Befreiung Gonduns beitrug.
Das Studium des Kodex der Dan-Ritter war ihm entgegen aller Befürchtungen leichtgefallen und er hatte es sehr schnell nicht mehr als Strafe empfunden. Stattdessen hatten die alten Texte sein Interesse für die Philosophie der Dan geweckt, die sich dort in vollkommener Weise vor ihm darlegte. Tenan war beeindruckt von der tiefen Weisheit, die aus den Worten sprach. Der Text rührte etwas in seiner Seele an, das er intuitiv immer gespürt hatte, das aber bisher nicht zu greifen gewesen war.
Einige Abschnitte, die ihm unklar waren, ließ er sich von Dualar erklären. Meister Osyn hatte ihm früher Ähnliches beizubringen versucht, aber Dualar verstand es, die Texte so nachvollziehbar auszulegen, dass er die Bedeutung sofort erfasste und ihren Nutzen erkannte. Schnell hatte Tenan einzelne Passagen des Kodex verinnerlicht und versuchte, seine Handlungen und sein Denken danach auszurichten, was Amberon und Dualar mit Wohlgefallen registrierten. Ihr Ärger über seinen Ungehorsam löste sich allmählich auf, und zu seiner großen Erleichterung teilte ihm Dualar mit, dass er das Heer weiterhin begleiten durfte.
Im Lager herrschte eine Stimmung nervöser Anspannung und Betriebsamkeit, während sich die Truppen zum Marsch gen Leremonth bereit machten. Tenan half in seiner freien Zeit dabei, die Karren mit Waffen und Verpflegung zu beladen. Die Soldaten schärften ihre Schwerter und führten Trainingskämpfe durch, an denen er ebenfalls teilnehmen durfte. Seine Schwerttechnik verbesserte sich stetig, und ein paar Mal gelang es ihm sogar, einen der fortgeschrittenen Dan-Schülerzu besiegen, der sich bereiterklärt hatte, mit ihm zu trainieren.
Ab und zu suchte Tenan Erdon auf, um sich nach Seren Toroquar zu erkundigen. Er hoffte, noch mehr über die Geschehnisse der letzten Wochen in Erfahrung bringen zu können, aber der Zustand des Händlers war unverändert schlecht. Erdon hielt ihn die meiste Zeit mit Zaubergetränken in einem tiefen Schlaf, damit er weder die Schmerzen des Körpers noch die des Geistes ertragen musste.
»Wenn ein Mensch keinen Lebenswillen mehr besitzt und den Kampf aufgegeben hat, ist alle Kunst vergebens«, meinte der Heiler zu Tenan. »Er befindet sich schon zu weit auf der anderen Seite.«
Tenan nahm das mit Bedauern zur Kenntnis, da er gehofft hatte, Seren könnte ihm irgendetwas, und sei es auch nur eine Kleinigkeit, zu seinem Heimatdorf sagen.
»Es ist seltsam«, sagte er eines Abends zu Eilenna und Urisk, als sie beim Nachtmahl zusammensaßen. »Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich ihm den Tod gewünscht, doch nun empfinde ich Mitleid mit ihm. Sein ganzes Leben lang hat er versucht, Reichtümer anzuhäufen, und nun stirbt er verlassen und verarmt auf dem Krankenlager.«
Eilenna seufzte. »Er erinnert mich an meinen Onkel Erskryn. Auch für ihn sind Gold und Macht das Wichtigste. Allerdings weiß ich, dass sich in dem Piraten ein anderer Mensch verbirgt, auch wenn der schon lange in Vergessenheit geraten ist. Nachdem meine Mutter und mein Vater getötet wurden, hat sich Erskryn zum Sklaven seines eigenen Hasses gemacht.«
»Auch Seren wird seine Gründe gehabt haben, so zu werden, wie er ist«, sagte Tenan nachdenklich. »Ich werde wohl niemals herausfinden, was ihn so habgierig werden ließ.«
»Besser so«, mischte sich Urisk schmatzend in die Unterhaltung ein, während er sich die Finger leckte. »Man muss nicht alles wissen über den hinterhältigen Händler, der dem Herrn nur Böses wollte! Dafür gibt es keine Entschuldigung!«
Tenan und Eilenna lächelten über Urisks Bemerkung; seine einfache Art, die Welt zu sehen, belustigte sie, und seine aufrichtige, bedingungslose Treue rührte Tenan.
Am nächsten Morgen erhielten sie die Botschaft, dass Seren in der Nacht gestorben war. Er war nicht mehr zu Bewusstsein gekommen, auch dann nicht, als Erdon die schlaffördernden Mittel für eine Weile ausgesetzt hatte. Ohne Feierlichkeiten verbrannten sie seinen Leichnam und verstreuten die Asche im Meer. Tenan, Eilenna und Urisk waren die Einzigen, die dem einfachen Ritual beiwohnten.
»Wenigstens am Ende seines Lebens hat er noch etwas Gutes bewirkt«, sagte Tenan leise. »Wenn wir den Stützpunkt der Gredows vernichten können, wird das auch sein Verdienst sein.«
Nicht nur er, sondern auch Eilenna und Urisk warteten ungeduldig auf den Marschbefehl. Alle drei
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