Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
ebenfalls in der Ebene von Armara übernachtet. Schon damals hatten ihn die Überreste der alten Zivilisation in ihren Bann gezogen. Was war mit ihr geschehen? War sie durch einen Krieg zerstört worden? Es musste ein mächtiges Volk gewesen sein, das die Gebäude errichtet hatte, die nun schon seit vielen hundert Jahren in Ruinen lagen und auch in weiteren Jahrhunderten noch für die Nachwelt sichtbar sein würden.
Tenan seufzte tief. Was mochte ihn in Esgalin erwarten? Es lag nur noch einen Tagesmarsch entfernt, und der Gedanke, bereits morgen Gewissheit über das Schicksal seines Dorfes zu erlangen, versetzte ihn in große innere Unruhe und raubte ihm den Schlaf.
Als sie am nächsten Tag die schmale Küstenstraße erreichten, die am nördlichen Hochufer Gonduns nach Osten führte, schlug Tenans Herz schneller: Nun lag das Dorf nicht mehr fern. Er kannte die Gegend, jeder Felsen, jeder Stein, der zu beiden Seiten aus dem Stoppelgras hervorlugte, war ihm vertraut.
Am frühen Nachmittag passierten sie linker Hand die Drei Klippen, die bei besserem Wetter einen weiten Ausblick übers Meer boten, das heute jedoch hinter einer dichten Wand aus Regen und Nebelschwaden verborgen lag. Tenan spürte einen wehmutigen Stich in der Brust. Wie oft hatten Amris und er damals den Schiffen nachgeschaut, die Gondun verließen?
Sein Blick bohrte sich in den dichten Nebel, der über dem Weg lag, nur noch wenige Biegungen trennten sie von den ersten Gebäuden. Bald gelangten sie an den Rand des Dorfs; verbrannteStallungen und Lagerschuppen verhießen nichts Gutes und ließen Tenans Furcht wachsen. Schließlich betraten sie jenen Bereich Esgalins, den man das Unterdorf genannt hatte.
Tenan blieb stehen und starrte fassungslos auf verbranntes Brachland. Es lagen nur wenige Trümmer herum, und die Erde war schwarz von Asche, als ob ein extrem heißes Feuer alles, was einmal gewesen war, verschlungen hatte – ähnlich dem Zauber des Utur, mit dem die Gredows die Festung von Dorlin vernichtet hatten.
»Tenan?« Er hörte Eilennas Stimme hinter sich. Am Schimmern ihres matrall sah er, dass sie neben ihn trat.
Er holte tief Luft, bevor er antwortete. »Hier lag einst der Gemüsegarten von Ma Indra. Meine Freunde und ich veranstalteten oft Pferderennen gegen die Unterdörfler und galoppierten dabei direkt durch ihre Beete.« Er ließ die Schultern hängen. »Unsere Pferdehufe haben den Garten früher schlimm zugerichtet, aber das hier ...«
Eilenna schwieg betroffen. Die Fläche vor ihnen wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Garten auf. Die Erde und das Gestein darunter waren in großer Hitze zu einer harten Schlacke verschmolzen, die schwarz glänzend die Wolken widerspiegelte. Daneben waren die Überreste eines kleinen Hauses zu erkennen, von dem nur noch die steinernen Grundmauern übriggeblieben waren.
»Schweigt!«, sagte Dualar leise zu ihnen. »Hinter den Trümmern könnten sich Gredows verstecken und durch unser Reden auf uns aufmerksam werden.«
Der Nebel war so dicht, dass Tenan kaum mehr als ein paar Armlängen weit sehen konnte. Obwohl er am liebsten die Ruinen der umliegenden Häuser nach Überlebenden oder einem Anzeichen der Dorfbewohner untersucht hätte, erlaubte esihm Dualar nicht. »Es ist zu gefährlich, auch wenn du einen Tarnumhang trägst. Die Gredows könnten deine Witterung aufnehmen und dich mit Pfeilen töten, ohne dich sehen zu müssen!«
Als sie das Zentrum Esgalins erreichten, rissen die Nebelschwaden auf, und das wahre Ausmaß der Zerstörung wurde offenbar.
Tenan hatte gehofft, ein paar intakte Häuser und Hütten vorzufinden, doch nirgendwo stand ein Stein auf dem anderen. Die Dächer waren eingestürzt, ihre Holzbalken zu Asche verbrannt. Die Straße, die einst mitten durch das Dorf geführt hatte, war von Trümmern und Mauersteinen übersät und unpassierbar. Esgalin existierte nicht mehr. Trotzig wischte Tenan die Tränen aus den Augen.
»Ein Versteck von Gredows müssen wir hier wohl nicht befürchten«, meinte Ibik, und seine Gestalt tauchte zwischen den Ruinen auf, als er sich den matrall vom Kopf zog. Auch Dualar wurde sichtbar. »Wir werden hier rasten und alles erkunden«, sagte er. »Tenan, du kennst dich in der Gegend aus – wo ist ein guter Platz, um unser Lager aufzuschlagen?«
Die Frage riss Tenan aus seinen düsteren Gedanken. »Im Wald von Rhun gibt es eine Steilwand mit Höhlen, die hinter Efeu verborgen sind und einen guten Blick über das Dorf und die umliegende
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