Der Ruf der Pferde
Fenster hereinfallende Licht. »Ich glaube, da steckt noch was drin.«
Patricia musterte ihre Hand. Er hatte recht, jetzt, da die Wunde offen lag, konnte auch sie den Holzspan erkennen, der tief unter der Haut stak. Kein Wunder, dass die Hand so heftig schmerzte.
»Der muss raus.« Silas suchte eine Pinzette aus dem Verbandskasten heraus.
Patricia hielt stoisch still, obwohl sie solche Operationen eigentlich gar nicht mit ansehen konnte. Doch der stumme Feind neben ihr verhinderte, dass sie diese Schwäche zugab.
»So was aber auch«, murmelte Silas mit gerunzelter Stirn, als das winzige Holzstückchen zum wiederholten Mal seinem Zugriff entschlüpfte. Er schob seine Brille tiefer und blickte darüber hinweg, als ob er auf diese Weise schärfer zu sehen vermochte. »Meine Augen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
»Ist doch schon okay«, sagte Patricia schnell und versuchte, ihre Hand wegzuziehen. »Das kann heute Abend meine Mutter machen.«
»Kommt nicht infrage.« Silas schaute sie streng über den Rand seiner dicken Brille an. »Bis heute Abend hat sich das entzündet.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich zu Patricias Entsetzen an Ethan. »Rutsch mal rüber, Junge, du hast jüngere Augen. Versuch du mal, ob du das Ding rauskriegst.«
Patricia biss sich auf die Lippe. Oh nein, war ihr einziger Gedanke.
Auch Ethan schien überrumpelt, er saß stocksteif und starrte den Alten an, als ob er Silas für nicht ganz zurechnungsfähig hielt.
Silas tat so, als merke er nichts von der extremen Spannung, er winkte Ethan ungeduldig heran. »Na los, Junge, sie beißt schon nicht!«
Ethan hatte seinen Mund fest zusammengekniffen. Doch dann seufzte er und rückte heran.
Patricia hoffte, dass ihre Hand nicht zitterte, als sie sie Ethan entgegenstreckte. Als er sie betont unbeteiligt ergriff, musste sie den starken Impuls überwinden, sie ihm wegzureißen und aufzuspringen. Sie wusste selbst nicht, warum es sie so störte, dass ausgerechnet Ethan sich nun um sie kümmern sollte. Er war ein Idiot, natürlich, aber was regte sie sich so darüber auf – er würde den Splitter aus der Wunde ziehen und das war’s. Silas hatte vollkommen recht, der Fremdkörper musste so schnell wie möglich heraus. Die Verletzung pochte ohnehin schon unangenehm, die Entzündung deutete sich bereits an. Je länger sie wartete, desto schlimmer wurde es, das wusste Patricia aus Erfahrung. Und der Typ sollte ruhig mal was tun, wenn er schon hier rumsaß!
Trotzdem wäre Patricia jeder andere lieber gewesen als ausgerechnet er.
Ethans Handflächen waren feucht. Patricia warf ihm einen heimlichen Seitenblick zu. Sein Gesicht zeigte allerdings kein Zeichen von Nervosität, sondern blanke Genervtheit, als er ihre Hand auf seinem Knie positionierte und die Pinzette nahm.
Patricia machte sich innerlich auf eine schmerzhafte Prozedur gefasst – Rache war immerhin süß. Zu ihrer Verblüffung ließ er jedoch diese Gelegenheit ungenutzt. Seine langen, schlanken Finger führten die kleine Pinzette zielgenau und gleichzeitig behutsam und Patricia merkte, dass er sich tatsächlich Mühe gab, ihr nicht unnötig wehzutun. Sie entspannte sich merklich und sah mit neuem Interesse zu, wie Ethan schon nach wenigen Au genblicken das kaum sichtbare Ende des winzigen Spans zu fassen bekam.
Der dankbare Impuls, der Patricia nach der erfolgreichen Operation überkam, wurde allerdings im Keim erstickt. Ethan schob ihre Hand schnell von seinem Knie und zog sich in seine Sofaecke zurück. Patricia hatte schon den Mund geöffnet, um sich bei ihm zu bedanken und vielleicht sogar Frieden zu schließen, doch nun entschied sie sich anders.
Was für ein Arsch! Er tat ja gerade so, als sei es eine Zumutung für ihn gewesen, sie zu berühren! Nein, mit dem würde sie nie warm werden, das wusste Patricia ganz sicher.
Im Gegensatz zu ihm verfügte sie allerdings über Manieren, dachte Patricia giftig.
»Danke«, sagte sie daher knapp zu Ethan, der sie erstaunt ansah.
War er wirklich verblüfft, weil sie sich bedankt hatte? Meinte der Blödmann denn, alle anderen seien genauso unhöflich wie er?
Offenbar schon. Denn er sah Patricia zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatte, direkt an. Und in seinem Gesicht stand kein Zorn, sondern Nachdenklichkeit.
Er hat schöne Augen, kam es Patricia spontan in den Sinn. Ganz dunkelbraun.
Im nächsten Moment erkannte sie, was sie da gerade gedacht hatte, und merkte, wie eine heiße Welle über ihr Gesicht
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