Der Ruf der Pferde
flutete. Verdammt, was sollte das? Hier handelte es sich um den Großkotz!
Ethan sah sie immer noch an, während Silas die Wunde nun desinfizierte und verband. Was er dachte, war nicht auszumachen.
Und er lächelte nicht, als er antwortete: »Bitte. Keine Ursache.«
17.
Die Vorhänge am offenen Fenster blähten sich im böigen Nacht-wind und in der Stille der Dunkelheit tönte das Zirpen von Grillen und das Quaken von Fröschen aus dem Moor trotz der Entfernung bis hierher. Doch die Geräusche der Sommernacht waren nicht der Grund, weshalb Ethan noch immer wach lag, obwohl er schon vor mindestens zwei Stunden zu Bett gegangen war.
Am Anfang versuchte er noch mit aller Macht einzuschlafen und wälzte sich dabei unruhig von einer Seite auf die andere, um eine entspannendere Position zu finden. Inzwischen hatte Ethan es aufgegeben. Er lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte mit weit offenen Augen in die Finsternis.
Er verstand sich selbst nicht mehr.
Was hatte er sich geärgert, als am Nachmittag dieses Mädchen urplötzlich in Silas’ Wohnstube stand. Nicht schon wieder, dachte Ethan, die schien ihn tatsächlich zu verfolgen. Und dann ausgerechnet heute!
Er war schon die ganzen letzten Tage schlecht drauf gewesen. Mehrere unangenehme Zusammenstöße mit seinem Vater reichten schon unter normalen Umständen aus, dass sich seine Stimmung auf dem Nullpunkt befand. Dazu kam, dass er zurzeit mit seiner Arbeit am Computer nicht vorankam – die Verbindung ins Netz brach immer nach wenigen Minuten ab, und seit gestern Mittag ging dann überhaupt nichts mehr. Ethan vermutete eine Störung in der Vermittlungsstelle, die sicherlich gerade behoben wurde, und er wusste natürlich, dass er einfach Geduld haben musste. Doch Geduld war nicht gerade seine Stärke, vor allem nicht, wenn die Arbeit am PC definitiv das Einzige war, was ihm momentan das Dasein einigermaßen erträglich machte.
Obwohl der heutige Tag wahrscheinlich nicht einmal mittels einer unbegrenzten Breitbandverbindung zu retten gewesen wäre.
Ethan schluckte die Tränen, die ihm unvermittelt in die Kehle stiegen, wütend hinunter. Was brachte es denn, wenn er sich dauernd selbst bemitleidete – inzwischen sollte er sich daran gewöhnt haben, seinen Geburtstag allein zu begehen!
Er konnte sich nur noch dunkel entsinnen, dass es vor langer Zeit einmal anders gewesen war. Bildfetzen von brennenden Kerzen auf einer Geburtstagstorte zogen durch seine Erinnerung. Musik, lachende Gesichter von Kindern, die damals wohl zu seiner Party gekommen waren, Luftballons, Spiele und bunt eingepackte Geschenke. Ethan kam ein großes Tretauto in allen Farben in den Sinn – das musste wirklich etliche Jahre her sein, für Tretautos konnte er sich schon etwas länger nicht mehr begeistern. Damals jedoch war es die Erfüllung seines größten Wunsches gewesen und er erinnerte sich bis heute an den Freudentaumel, der ihn angesichts des heiß ersehnten Gefährts überkommen hatte. Und an das liebevolle Lächeln und die feste Umarmung seiner Mutter, die sich mit ihm darüber freute, das Richtige getroffen zu haben.
Seine Mutter hatte eigentlich immer gewusst, womit sie Ethan die meiste Freude bereiten konnte. Nur einmal nicht. Damals, als sie fortging und nicht zurückkam.
Er schloss die Augen und atmete tief durch.
An Tagen wie diesen schmerzte es immer am meisten. Das war ganz normal. Es ging auch wieder vorbei, das wusste er. Es blieb ja auch nichts anderes übrig, als sich mit den Tatsachen abzufinden: Seine Mutter hatte sich davongemacht und seitdem nie wieder von sich hören lassen. In der ersten Zeit war Ethan verzweifelt gewesen. Er verstand es nicht, wie sie ihn so einfach alleinlassen konnte. Sein Vater, den er deswegen befragte, reagierte stets abweisend, wenn das Thema zur Sprache kam, und schon der kleine Ethan damals merkte rasch, dass es besser war, nicht weiter nachzubohren. Irgendwelche Gründe musste sie wohl gehabt haben, vermutete Ethan, als er selbst älter und klüger wurde. Allerdings fiel ihm absolut nichts ein, was entschuldigt hätte, dass eine Mutter ihren siebenjährigen Sohn ohne ein Wort verließ und sich nie wieder meldete. Mit den Jahren dachte Ethan dann immer seltener darüber nach. Er fand sich damit ab, dass seine Mutter nicht mehr da war, und in seiner Erinnerung verblasste sie allmählich zu einer verschwommenen Gestalt, von der er nicht einmal wusste, ob er sie wiedererkennen würde. Wohin sie gegangen
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