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Der Ruf Der Trommel

Titel: Der Ruf Der Trommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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immenser Distanz und unendlicher Ferne vermittelten.
    »Es ist wie in der Osternacht«, kam leise Jamies Stimme, begleitet von den schwachen Kratzgeräuschen eines Feuersteins. »Ich habe die Messe einmal erlebt, in Notre Dame in Paris. Vorsicht, Ian, da ist ein Stein.« Ein dumpfes Geräusch und ein unterdrücktes Stöhnen zeigten an, daß Ian den Stein zu spät bemerkt hatte.
    »Die Kirche war ganz dunkel«, fuhr Jamie fort, »aber die Leute, die zur Messe kamen, kauften kleine Wachskerzen bei den alten Frauen an der Tür. Es war ein bißchen wie hier« - ich fühlte seine himmelwärts gerichtete Geste mehr, als daß ich sie sah - »ein riesiger Raum über uns, der vor Stille widerhallte, und die Bänke rechts und links voller Leute.« Trotz der Hitze erschauerte ich unwillkürlich bei diesen Worten, die eine Vision der Toten um uns heraufbeschworen, dicht an dicht gedrängt in Erwartung ihrer unmittelbar bevorstehenden Auferstehung.
    »Und dann, gerade als ich dachte, ich könnte die Stille und die Menschenmenge nicht mehr ertragen, kam die Stimme des Priesters vom Eingang. ›Lumen Christi‹ , rief er aus, und die Meßdiener zündeten die große Kerze an, die er trug. Dann nahmen sie die Flamme mit ihren eigenen, kleinen Kerzen auf und huschten in den Gängen auf und ab, um das Licht an die Gläubigen weiterzugeben.«
    Ich konnte seine Hände sehen, als die winzigen Funken des Feuersteins sie schwach erleuchteten.
    »Danach erfüllte sich die Kirche mit dem Licht tausend kleiner Flammen, aber es war jene erste Kerze, die die Dunkelheit besiegt hat.«
    Die Kratzgeräusche verstummten, und er nahm die Hand fort, mit der er die neugeborene Flamme geschützt hatte. Die Flamme wurde kräftiger und beleuchtete sein Gesicht von unten, tauchte seine hohen Wangenknochen und seine Stirn in goldenes Licht und seine Augenhöhlen in tiefe Schatten.
    Er hob die Kerze hoch und begutachtete die Grabsteine, die unheimlich wie ein Steinkreis um uns aufragten.
    »Lumen Christi« , sagte er leise und neigte vor einer Granitsäule, die von einem Kreuz gekrönt war, den Kopf. »Et requiescite in pace, amici.« Der halb spottende Ton war aus seiner Stimme verschwunden;
er sprach völlig ernst, und ich fühlte mich sogleich merkwürdig getröstet, als hätte sich eine wachsame Präsenz zurückgezogen.
    Da lächelte er mich an und reichte mir die Kerze.
    »Sieh nach, ob du ein Stück Holz für eine Fackel finden kannst, Sassenach«, sagte er. »Ian und ich werden uns mit dem Graben abwechseln.«
     
    Ich war nicht mehr nervös, kam mir aber immer noch wie eine Grabräuberin vor, als ich mit meiner Fackel unter einer Kiefer stand und zusah, wie Ian und Jamie sich in der tiefer werdenden Grube abwechselten, die nackten Rücken schweißglänzend im Fackelschein.
    »Die Medizinstudenten haben früher Männer angeheuert, die ihnen frische Leichen von den Kirchhöfen stahlen«, sagte ich und reichte Jamie mein schmutziges Halstuch, als er sich, vor Anstrengung grunzend, aus dem Loch hob. »Es war ihre einzige Möglichkeit, das Sezieren zu üben.«
    »Früher?« fragte Jamie. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und warf mir einen schnellen, ironischen Blick zu. »Oder heutzutage?«
    Glücklicherweise war es so dunkel, daß Ian nicht sehen konnte, wie ich errötete. Es war nicht mein erster Ausrutscher und würde wahrscheinlich auch nicht mein letzter sein, doch meist brachten mir diese ungeschickten Bemerkungen höchstens einmal einen fragenden Blick ein, wenn sie überhaupt jemandem auffielen. Die Wahrheit war einfach keine Möglichkeit, die irgend jemand in Betracht gezogen hätte.
    »Sie tun es heutzutage wohl auch noch«, gab ich zu. Mich schauderte bei dem Gedanken, einer frisch exhumierten und unkonservierten Leiche gegenüberzustehen, an der noch der Schmutz ihres entweihten Grabes klebte. Eine einbalsamierte Leiche auf einem Edelstahltisch war zwar auch nicht besonders angenehm, doch die Förmlichkeit der Präsentation trug mit dazu bei, die zerstörerische Realität des Todes wenigstens etwas auf Abstand zu halten.
    Ich atmete kräftig durch die Nase aus, um die eingebildeten wie die erinnerten Gerüche loszuwerden. Als ich wieder einatmete, füllte sich meine Nase mit dem Aroma von feuchter Erde, dem heißem Pech meiner Kiefernfackel und dem schwächeren, kühleren Duft der lebendigen Kiefer über mir.
    »Sie nehmen auch arme Schlucker und Verbrecher aus den Gefängnissen.« Ian, der unseren Wortwechsel offenbar gehört

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